»Willst du eine Geschichte hören, die schrecklich endet?« Mit diesen fast schon warnenden Worten beginnt die Autorin ihren Roman. In den 576 Seiten, die zu dem »schrecklichen Ende« führen, packt sie neben viel Drama und Tragik auch reichlich Witz und Tempo, weshalb die Antwort auf ihre eingangs gestellte Frage eigentlich überflüssig erscheint.
Doch vorab der Inhalt des Buches in aller Kürze: Im Mittelpunkt steht eine vermeintlich glückliche jüdische Familiendynastie, die bereits seit 40 Jahren viel Energie aufwendet, einen schweren Schicksalsschlag zu verdrängen.
Trotzdem liest sich das Ganze äußerst unterhaltsam. Denn die amerikanische Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin Taffy Brodesser-Akner gilt seit ihrem Erstlingsroman Fleishman steckt in Schwierigkeiten (2019), aus dem auch eine TV-Miniserie wurde, als Meisterin, wenn es darum geht, neurotische Charaktere mit einem jüdischen Touch zu kreieren, die bissig-scharfsinnige Dialoge voller Tiefgang führen. Auch ihre jüngste Geschichte von drei Generationen der Fletcher-Familie – so der Name der Protagonisten – liefert genug Stoff für einen Film.
Die Entführung wurde zu einem Teil ihres Lebens
Deren Krise nimmt folgendermaßen ihren Lauf: »Am Mittwoch, dem 12. März 1980, wurde Carl Fletcher, einer der reichsten Bewohner unseres Long-Islander Vororts, auf dem Weg zur Arbeit vor seiner eigenen Haustür entführt.« Es ist die Zeit der »avocadogrünen Wandtelefone mit der langen Schnur und senfgelben Küchen«, der Erfindung der Mikrowelle und des Modems.
All das, was über Generationen unter der Oberfläche schwelt, explodiert plötzlich.
Als Schauplatz des Verbrechens dient Middle Rock, »der erste amerikanische Vorort mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von über 50 Prozent« – mit seinen Villen im Craftsman-, Kolonial-, Federal- oder Tudorstil eigentlich der perfekte Ort für die Fletchers, um selbstbewusst den jüdisch-amerikanischen Traum zu leben.
Ihren Wohlstand verdanken die Fletchers dem unternehmerischen Geschick des Familienpatriarchen Zelig. Er war vor dem Antisemitismus in Polen geflohen und kam als mittelloser Einwanderer in die USA, im Gepäck eine chemische Formel, was zur Gründung einer Fabrik für Styroporverpackungen führte und damit zu viel Reichtum und Anerkennung.
All das ändert sich schlagartig mit der Entführung von Carl, Nachfolger des plötzlich verstorbenen Vaters Zelig an der Spitze des Unternehmens, und seiner Freilassung nach der Zahlung von »250.000 Dollar in nicht durchlaufend nummerierten Scheinen«. Die Familie setzt alles daran, diese »ganze schreckliche Sache« möglichst schnell zu vergessen, und bedient sich dabei Zeligs Leitspruch aus dem Ghetto: »Da ist ein Dibbuk im Getriebe«, der immer dann auftaucht, »wenn Dinge schiefer liefen, als Physik und Logik erklären konnten«. Carl kann das Erlebte jedoch nicht einfach loswerden – auch wenn seine Großmutter ihm ständig versichert: »Hör gut zu, Bubele. Das ist nur deinem Körper passiert. Das ist nicht dir passiert. Lass es nicht herein.«
Auch wenn alles den Anschein hat, als gehe das Leben seinen gewohnten Gang, nistet sich der Dibbuk bei den Fletchers ein. Die Kinder von Carl und Ruth sind ebenso miteinander verbunden wie voneinander entfernt: Nathan, »Anwalt für Bodenrecht in der Kanzlei seines Onkels Arthur Lindenblatt in Manhattan«, sein Bruder Beamer, der »ein mäßig erfolgreicher Drehbuchautor« ist, und Jenny, über die stets gesagt wird: »Es gab nichts, was Jenny anfing, worin sie nicht brillierte.«
Depressionen, Selbstzweifel oder Anflüge von Arroganz
Sie alle leiden an Depressionen, Selbstzweifeln oder Anflügen von Arroganz und scheitern daran, sich von der Familie vollständig abzunabeln. Auch hadert man mit den Erwartungshaltungen der Mischpoche. Schuld an der seelischen – und auch körperlichen – Misere dieser zutiefst dysfunktionalen Menschen sind wenig überraschend die Mütter, die mit ihrem Kontrollfreak-Habitus stets dafür Sorge tragen, dass Traumata von Generation zu Generation auch brav weitergegeben werden.
»Du kennst doch den Spruch«, so Alyssa, eine der Figuren aus dem Fletcher-Universum. »Die erste Generation baut das Haus, die zweite lebt darin, die dritte brennt es ab.« Darauf fragt Nathan flüsternd: »Und welche Generation sind unsere Kinder?« Das, was unter der Oberfläche schwelt, explodiert 40 Jahre später, und zwar, als sie erkennen, »dass wir den Gezeitentümpel, in den wir hineingeboren werden, nur bewältigen können, wenn uns jemand das Schwimmen beibringt. Oder einfacher ausgedrückt, um ein normaler Mensch zu werden, muss man wenigstens normale Menschen sehen«.
Doch die Fletchers sind keine »normalen Menschen«. Die Entführung wurde zu einem Teil ihres Lebens. Die Erinnerungen an die Angst stehen im Kontext von Erzählungen über Pogrome und Verfolgungen, die Teile des kollektiven Gedächtnisses sind. In jeder Generation der Überlebenden und ihrer Nachfahren können sie urplötzlich an der Oberfläche aufpoppen.
Geradezu opulent entfaltet Taffy Brodesser-Akner ihren Plot über vier Jahrzehnte, und zwar mit bis ins allerkleinste Detail feingezeichneten Charakteren und deren Neurosen, Phobien oder Ängsten. Parallel dazu thematisiert Brodesser-Akner Geld, Reichtum und das Erbe, was sie in den Kontext von Verantwortung für den Einzelnen setzt. Die Autorin will wissen, was es bedeutet, »ein erfüllendes Leben zu führen, wenn man nie gelernt hat, auf eigenen Beinen zu stehen«.
Bis zum angekündigten »schrecklichen Ende« ertappt sich die Leserin mehrmals bei dem Impuls, den Figuren zuzurufen: Yalla, zieh doch mal den Kopf aus dem Dreck und mach endlich was aus deinem Leben! Gleichzeitig aber ist sie am Ende auch um die alte Erkenntnis reicher: Geld allein ist eben nicht alles.
Taffy Brodesser-Akner: »Die Fletchers von Long Island«, Aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz, Eichborn, Köln 2025, 576 S., 25 €