Vielleicht war Georges Perec der letzte, der wirklich größte Feuerwerker der spätmodernen Literatur. Die Experimente, die formalen Exerzitien, die Sprachspiele, Palindrome, vokalen Rätsel und intelligenten Juxereien machten und machen Georges Perec zum Ereignis.
Wie bieder, wie mutlos, wie ideenfrei, verglichen mit Perec-Bänden wie Das Leben Gebrauchsanweisung (1978) oder La Disparition (1969) – ein mehrhundertseitiger Roman, in dem kein einziges Mal ein Wort mit »e« vorkommt –, W oder Die Erinnerung (1975) oder 53 Tage (posthum 1989), dagegen die deutschsprachige Gegenwartsliteratur!
Begleiter Das Leben Georges Perecs, geboren am 7. März 1936 und am 3. März 1982 verstorben, dessen Vater 1940 als Soldat fiel, dessen Mutter 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, hat David Bellos erstmals 1993 in einer Biografie beschrieben.
Der Engländer, der in Oxford promoviert wurde, in Manchester lehrte und dann bis 2019 22 Jahre lang Professor für Romanische und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Princeton University in den USA war, hat mehr als sein halbes Leben mit und für Perec verbracht; daneben übertrug er dessen Bücher, aber auch Fred Vargas, Simenon und Balzac ins Englische.
Fast 30 Jahre lang sammelte Bellos weiter, recherchierte, sprach mit Freunden und Verwandten, erhielt korrigierende Anmerkungen und Bemerkungen und ergänzende Erinnerungen. Der Diaphanes Verlag, der sich seit zwölf Jahren hingebungsvoll dem Werk George Perecs widmet, legt nun Bellos‹ grundlegend aktualisierte Lebensbeschreibung vor, sehr gut übersetzt von Sabine Schulz; und glücklicherweise festgebunden, dafür mit ungewöhnlich großem, die Seiten fast zur Gänze ausfüllendem Satzspiegel und feinsinnigem Nachweissystem.
Achterbahn Ein Leben als Stenogramm: Perec hatte polnische Vorfahren (der Vorname war eine bürokratische Verballhornung von »Peretz«). 1920 fand sich die Großfamilie in Paris ein. Wohlstand infolge des Handels mit Naturperlen. Es folgten der Krieg und das Überleben erst in der Bretagne und im Vercors-Gebirge bei Grenoble – die einzige Jüngere, die in Paris bei ihren Eltern blieb, war Georgesʼ Mutter, die dann nicht mehr der Deportation entkam. Mit 18 der Entschluss, Schriftsteller zu werden.
Studienabbruch, Erfolglosigkeit, Leben als hingebungsvoll marxistischer Bohemien. Viel- und Rundumleser, Hilfstätigkeiten in der Marktforschung und dann als schlecht bezahlter Archivar und Bibliothekar einer medizinischen Forschungseinrichtung. 1965 ein erster Ruhm infolge des Prix Renaudot, dann zehn Jahre Abrutschen ins literarische Abseits und ins Fast-Vergessen, der Anschluss an die Gruppe OuLiPo, die sich die Verquickung von mathematischen und literarischen Prinzipien auf die Fahne geschrieben hatte.
Viele Freundschaften des enorm umgänglichen, lebenslustigen (und schüchternen) Kettenrauchers und ein weiterer Erfolg mit Das Leben Gebrauchsanweisung, einem immens vertrackten Haus-Roman aus Wörtern, noch größerer Ruhm, Filmarbeiten, hektische Betriebsamkeit, Pläne, dann der viel zu frühe Krebstod. All dies zeichnet Bellos detailreich, enorm lesbar, dabei leichthändig und oft mit diskret distanzierter Kritik nach.
Frankofonie 1997 kam dann – ungewöhnlich schnell, gerade einmal 15 Jahre nach seinem Tod – die Erhebung in Frankreichs Literaturolymp. Perecs gesammelte Werke erschienen in zwei edlen Bänden, zusammen 2464 Druckseiten, in der Bibliothèque de la Pléiade, der ruhmreichen Klassiker-Reihe der Frankofonie. Begleitet wurde die Edition von einem Album Georges Perec, das man sich auch zulegen sollte – allein wegen der hochkomischen Fotografien!
Eine in jeder Hinsicht vorbildliche Biografie. In der auch deutlich wird, dass, was Perec im Alltag von sich fernhielt – jüdisch sein –, umso stärker in seiner kunstvollen und brillanten Erinnerungsprosa aufscheint, als leeres X von Mutter, Vater, Leben, Historie.
David Bellos: »Georges Perec. Ein Leben in Wörtern«. Übersetzt von Sabine Schulz. Diaphanes, Zürich und Berlin 2023, 704 S., 45 €