Vor musikalischen Kraftakten scheut der deutsche Klassik-Star Igor Levit selten zurück. Seine schon jetzt legendäre (und auch kommerziell enorm erfolgreiche) Kompletteinspielung von Ludwig van Beethovens Klaviersonaten, Johann Sebastian Bachs »Goldberg-Varationen«, die gut 15-stündigen Live-»Vexations« von Erik Satie - der Meisterpianist gilt als Marathon-Mann am Konzertflügel. Selbst das riesige Pensum im Studio, auf und neben der Bühne hält den 34-Jährigen nicht vom politischen Einsatz als streitbarer Demokrat ab - aber dazu später mehr.
Levits neues Musikprojekt passt zu einem Künstler, der stets die Herausforderung liebt, der bei Kreativität und Konzentration gern an körperliche Grenzen geht. Auf seinem Album »On DSCH« präsentiert er zwei monumentale Klavierzyklen der Moderne: die 24 Präludien und Fugen op. 87 von Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) und die als Hommage an den Russen konzipierte »Passacaglia on DSCH« des Briten Ronald Stevenson (1928-2015).
Insgesamt knapp vier Stunden Solo-Klaviermusik also, mit Stücken von höchster, teilweise nahezu unspielbarer Komplexität - »ein echter Brocken«, wie die Plattenfirma Sony Classical staunt. Es gab Zeiten, noch gar nicht so lange her, da überforderte vor allem Stevensons extrem anspruchsvolle Komposition selbst den als eines der größten Klassik-Talente seiner Generation geltenden Igor Levit. Vor einigen Jahren sei er daran noch »krachend gescheitert«, erzählt er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
»Wenn ich Werken begegne, die als Zyklen angelegt sind, versuche ich alles dafür zu tun, sie auch als Zyklen zu erlernen und aufzuführen«, sagt der Musiker über seine musikalischen Muskelspiele. »Ich wollte Stevensons »Passacaglia« schon 2015 aufnehmen, hab’s aber damals nicht gepackt - es war zu hoch, zu schwer, zu viel. Als ich einige Jahre später entschieden habe, Schostakowitsch aufzunehmen, war klar: Ich werde das nur machen im Verbund mit Stevensons »Passacaglia«. Meine Hände und mein Körper waren dafür erst 2019 bereit.«
Schostakowitschs Stücke seien ihm »schon immer heilig« gewesen, nun stünden beide Klavierzyklen »ganz zentral in meinem Repertoire«, so der vielfach ausgezeichnete Pianist. Dass die Musik des vom Stalinismus traumatisierten Schostakowitsch und des Schotten Stevenson ihn auch als politisch hellwachen Künstler stark berühre, gibt Levit unumwunden zu.
»Ja selbstverständlich, denn ich bin ein sehr politischer Mensch. Ich kann beides nicht trennen und verhandele auch mit Hilfe von Musik das, was ich in der Welt sehe«, sagt Levit im dpa-Interview. »Das Stück von Stevenson etwa ist wahrscheinlich die internationalste Klaviermusik, die ich kenne. Es bereist und umarmt ja tatsächlich die ganze Welt, von Kontinent zu Kontinent zu Kontinent.«
Womit wir beim Polit-Aktivisten Levit wären - als solcher ist der 1987 im russischen Gorki geborene, 1995 mit der Familie nach Hannover übergesiedelte Künstler seit Jahren fast ebenso bekannt. Das Grünen-Mitglied tritt für Menschenrechte, Demokratie und Klimaschutz, gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsradikalismus ein.
In den sozialen Medien führt Levit mit Verve kontroverse, auf der Gegenseite oft hasserfüllte Debatten. Für sein gesellschaftliches Wirken wurde er 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. In wenigen Tagen erhält Igor Levit in Hannover den Niedersächsischen Staatspreis (13.9.) und in Berlin den »ifa-Preis für den Dialog der Kulturen« des Instituts für Auslandsbeziehungen (14.9.).
Sein »Job« als Musiker ist eigentlich schon stressig genug - mit täglich stundenlangem Üben, Plattenaufnahmen, Konzertreisen, Interviews, einer Hochschulprofessur in Hannover. Hat er keine Angst davor, sich zu überfordern - dass die Kerze von zwei Seiten zugleich abbrennt? »Es gibt einen Unterschied zwischen Verbrennen und Ausbrennen«, sagt Levit. »Da sind Tage, an denen ich mich verbrannt fühle - aber ich habe wunderbare Menschen um mich herum, daher hat es noch nie einen Tag gegeben, an dem ich mich ausgebrannt gefühlt habe.« Keine Sorge also: Er sei »manchmal müde - aber gesund«.
Neue Motivation findet er ohnehin immer wieder aufs Neue - ob in seinem demokratischen Engagement als »Bürger und Europäer« oder als Musiker. Dass er nach vielen konzertlosen Monaten der Corona-Pandemie derzeit wieder live auftreten kann, empfindet Levit - bei aller Erschöpfung nach gedoppelten Auftritten - als »beglückend«.
Und ein Mammutprojekt wie das aktuelle Album »On DSCH« ist für ihn ohnehin viel mehr als nur ein weiterer künstlerischer Gipfelsturm. Auf die Frage, ob ihn missionarischer Eifer antreibe, unbekanntere Komponisten wie kürzlich Frederic Rzewski (»The People United Will Never Be Defeated«) oder jetzt Stevenson bekannter zu machen, denkt Igor Levit ganz kurz nach. Und sagt dann: »Ja, da ist was dran. Ich will einfach, dass so viele wie möglich diese Stücke hören.«