Frau Nemtsov, am Ende Ihres Musikstudiums in Hannover entstand 2005 die Kammeroper »Herzland«, die den Briefwechsel von Paul Celan mit seiner Frau, der Zeichnerin Gisèle Lestrange, und die traumatischen Erlebnisse während der Schoa zum Thema hatte. Bald stand dieses Werk auch auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper. War damit bereits früh der Weg zur Opernkomponistin vorgezeichnet?
Direkt nach der Premiere von »Herzland« hat mein damals bereits ehemaliger Kompositions-Professor Johannes Schöllhorn zu mir gesagt: »Jetzt musst du eine große Oper schreiben!« Das hat mir einen richtigen Schlag versetzt. Danach ging ich als Meisterschülerin zu Walter Zimmermann nach Berlin und habe ziemlich schnell einen Opernstoff gesucht. Ich bin dann auf das »Buch der Fragen« des ägyptisch-jüdischen Dichters Edmond Jabès gekommen. Daraus entstand meine erste große Oper »L’Absence«. Dieses Werk erzählt in einem komplex-schillernden Mosaik aus Kommentaren, Erzählpassagen, Monologen, Dialogen und Aphorismen von der unmöglichen Liebe zweier Juden, Yukel und Sarah, im Schatten der Schoa. Daran hatte ich zwei Jahre zunächst ohne Auftrag geschrieben. Dann bekam ich einen für eine Aufführung in Rheinsberg, die aber platzte, weil das Werk zu umfangreich geworden war und nicht mehr finanziert werden konnte. Am Ende bekam der Dirigent Peter Ruzicka, der langjährige Intendant der Salzburger Festspiele, die Partitur in die Hände und nahm sie für die Münchner Biennale an, die er damals leitete. Ein riesiger Glücksfall!
Oft haben Sie sich in Ihren Kompositionen von synagogaler Musik wie auch auf jüdischer Volksmusik inspirieren lassen. In der Oper »L’Absence« tauchten Gesänge auf, die entfernt an Teamim erinnern, so also wie im jüdischen Gottesdienst die Tora rezitiert wird.
Es gibt tatsächlich ein paar momenthafte Anklänge daran. Ich habe quasi das Konzept übernommen, wie Sprache gesungen wird. Es ist sehr abstrakt und modern, entgegen allem Pathos. Das hat mich interessiert für »L’Absence«.
Nun entstand das Libretto Ihrer Oper »Ophelia« in Zusammenarbeit mit Mirko Bonné. Ophelia, eine Figur aus dem »Hamlet«, die – im Gegensatz zur Titelfigur – bei Shakespeare kaum Raum zur Selbstbestimmung hat …
Ich hatte diese Anfrage aus Saarbrücken bekommen, wobei Shakespeare thematisch vorgegeben worden war. Für die Bühnenfigur Ophelia habe ich mich entschieden, weil mich schon immer geärgert hat, dass sie ausgenutzt, manipuliert und hintergangen, vor allem aber nicht richtig ernst genommen wird.
Was aber qualifiziert sie nun zur Protagonistin?
Ich fand es immer so frappierend, dass sie am Ende zu dichten und zu singen anfängt und dafür für verrückt erklärt wird. Dabei wird sie doch in diesem Augenblick zur Künstlerin. Zumindest war das immer mein Bild. Das erinnert mich auch an Schriftstellerinnen im 20. Jahrhundert, wie Virginia Woolf, Sylvia Plath, Janet Frame. Sie haben gekämpft, um diesen Freiraum für uns Frauen heute zu erreichen. Da wollte ich gern ansetzen, nämlich, dass sich die Ophelia da rauszieht. Ich hatte nur einen Wunsch an das Libretto, nämlich, dass es vier Ophelias in verschiedenen Stimmlagen gibt, und wenigstens eine sollte überleben. Ansonsten hat Mirko Bonné seine Sicht auf den Stoff entwickelt. Er hat mit dem Ende des Dramas angefangen, als eigentlich fast alle schon tot sind. Sie bilden ein Totenensemble und streiten immer noch.
Gibt es in »Ophelia« auch stilistische Bezüge zu jüdischer Musik?
Es gibt nur an einigen Stellen mit dem Chor und auch mit dem Orchester solche Momente, in denen ich synagogale Wolken erdacht habe – und zwar, wenn dort alle ungefähr dasselbe Gebet murmeln, in einer ähnlichen Melodie, aber nicht unisono, weil jeder für sich ist. Das ist so eine klangliche Inspiration für mich in einer Atmosphäre, wie man sie aus der Synagoge kennt. Das habe ich versucht akustisch einzufangen.
Das Gespräch mit Sarah Nemtsov führte Gerhard Haase-Hindenberg.
Die Oper »Ophelia« wird am 13. Mai am Saarländischen Staatstheater uraufgeführt.