Am Anfang waren sie noch zu fünft. Die Rede ist von Avischai, Amos, Jehuda, Sohara und Nili, einer Clique von Freunden, die sich seit vielen Jahren kennen. Zwei von ihnen, Avischai und Amos, beide Professoren für Wirtschaftswissenschaften, sind sogar gemeinsam zur Schule gegangen und haben zusammen studiert.
Später dazu gestoßen waren dann Jehuda, der mit 29 Jahren einen Tütenöffner erfunden hat, weshalb er dank des Verkaufs des Patents Millionär werden konnte, Sohara, die als Auftragsschreiberin die Memoiren anderer verfasst, und last but not least die Kinderärztin Nili.
Alle sind nun im gehobenen Alter, Mitte bis Ende 60, und endlich in Rente oder kurz davor. Die leicht adipöse Nili ist froh, keine nervigen Blagen mehr behandeln zu müssen, Amos beschäftigt sich noch eine Weile mit seinem Orchideenfach Glücksforschung, und Avischai genießt auf internationalen Konferenzen und in Fachpublikationen Starruhm dank seiner Theorie vom Klassen-König.
Nun ist es Anfang Oktober 2015, und in den Wettbüros ist gerade die Frage, ob Avischai den Nobelpreis für Ökonomie erhalten wird, das große Thema. Nur noch zehn Tage sind es bis zur offiziellen Bekanntgabe in Stockholm – da findet ihn Sohara, mit der Avischai ein lockeres amouröses On-Off-Verhältnis hat, tot in seinem Haus auf dem Bett. Was also tun?
Ruhm Normalerweise würde man den Krankenwagen rufen. Sohara aber trommelt die vier Freunde zusammen und bestellt sie in Avischais Wohnung ein. Dort schließen sie einen Pakt, um posthum ihre Freundschaft zu Avischai unter Beweis zu stellen und ihn zu ehren. Ihm war nichts wichtiger als der Ruhm, den einem der Nobelpreis bringen könnte.
Würde jetzt sein Tod in Stockholm bekannt werden, könnte Avischai den Preis nie erhalten, denn nur Lebende dürfen ihn in Empfang nehmen. Wenn das Quartett aber die Meldung über sein Ableben verschweigt, dann kann ihm die Auszeichnung nicht mehr genommen werden. Also hecken sie einen Plan aus: Sie verstecken die Leiche zehn Tage.
Das ist der auf den ersten Blick simple, aber äußerst unterhaltsame dramaturgische Rahmen von Noa Yedlins Roman Unter Freunden stirbt man nicht, dessen schwarzer Humor einen schnell packt. Das hebräische Original von 2016 hieß schlicht und ergreifend Stockholm. Vor seiner wirklich hervorragenden Übersetzung, die Helene Seidler zu verdanken ist, wurde der Stoff bereits etwas frei interpretiert für RTL+ als Miniserie verfilmt, mit Iris Berben, Adele Neuhauser und Heiner Lauterbach in den Hauptrollen.
In der TV-Adaption ist jedoch all das, was Yedlins Buch auszeichnet, die Kreisstruktur, das Ausschwingende, vor allem aber die bedrängend komisch-dämonische Introspektion der einzelnen Figuren, genrezwangsläufig entsorgt worden. Angesichts dessen, dass auf 464 Seiten kein einziger Dialog zu finden ist, sondern ausschließlich indirekte Gespräche – als ob man die Protagonisten wie durch eine Art Aquariumsglas belauscht –, verwundert das nicht weiter.
Dunkelheit Unter Freunden stirbt man nicht ist ein Roman, der anmutet, als hätte sich die Schauspielerin und Schriftstellerin Yasmina Reza auf dem Höhepunkt ihrer Karriere an eine Neuverfilmung von Alfred Hitchcocks Klassiker Immer Ärger mit Harry gewagt.
Man hat einen Plan und will den toten Avischai zehn Tage verstecken.
Über diesen Film sagte der Meisterregisseur einmal, er hole damit »das Melodram aus der Dunkelheit der Nacht und bringe es ans helle Tageslicht. Es ist, wie wenn ich einen Mord an einem plätschernden Bach zeigte und einen Tropfen Blut ins glasklare Wasser spritzte.« Diese Aussage bringt auch den Charakter des Buches der 1975 geborenen und in Tel Aviv lebenden Noa Yedlin bestens auf den Punkt.
Bei Hitchcock »wandert« Harry als Toter umher, mehrfach wird er verbuddelt und wieder ausgegraben. Und Avischai? Mal wird er durch die Gegend getragen, mal in einem Van hin- und hergefahren. Besonders grotesk und hochkomisch: In einem Kapitel wird Avischai auf dem Bürgersteig abgelegt – nur um dort kurz darauf von einem E-Roller überfahren zu werden. Die Leiche fliegt eine Treppe hinunter oder verschwindet für einen halben Tag und ist nicht auffindbar.
Ausland Immer wieder geraten die vier Freunde in bizzare Situationen, entweder weil überraschend Avischais Schwester auftaucht, eine junge Frau mit einem positiven Schwangerschaftstest um die Ecke kommt oder Jehuda von einer Überraschungsparty zu seinem 70. Geburtstag überrumpelt wird, vor der er sich nicht drücken kann. Dabei wird der tote Avischai gerade in seiner Wohnung gebunkert, weil Jeduha davon ausging, dass seine Gattin ins Ausland verreist sei. Genau das war aber nicht der Fall.
Eine weitere Gemeinsamkeit von Yedlins raffinierter Prosa mit dem Hitchcock-Film: In beiden plaudern die Protagonisten genauso locker-flockig über Sex wie über den Toten, den eigentlich niemand so richtig vermisst, weil keiner ihn wirklich leiden konnte.
So war auch Avischai jemand, der zu Lebzeiten eher arrogant, fies, sarkastisch und verletzend war. Dafür wachsen einem Sohara, die weiter nach der großen Liebe sucht, sowie die frustrierte, aber irgendwie doch glückliche, moppelige Nili sowie Jehuda, der dringend die Scheidung von seiner Frau sucht, oder der ewig neidische und trotzdem irgendwie doch nicht neidische Amos rasch ans Herz.
Noa Yedlin beherrscht die große Kunst des Erzählens und nimmt ihre Leser mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die sich um Selbstbetrug, Selbstmitleid und Selbsttäuschung drehen. Und dennoch sind die von ihr geschaffenen Figuren grundsympathisch, weil man sich bei den blinden Flecken und kleinen Alltagslebenslügen vielleicht manchmal ein wenig selbst wiedererkennt.
Noa Yedlin: »Unter Freunden stirbt man nicht«. Roman. Übersetzt von Helene Seidler. Kein & Aber, Zürich 2023, 464 S., 26 €