»Geht ein Mann in die Bar, fragt er ...«, »Entdeckt eine Frau am Halskettchen ihres Geliebten einen Davidstern, sagt sie ...« Witzig? Ja und nein. Ja, weil die ganze Performance vom Gedanken guter Unterhaltung getragen ist und dazu ganz sicher auch das Lachen gehört. Nein, weil sich hinter den Pointen, die wie Spitzen in die Gegenwart ragen, vielschichtige, komplizierte, auch tieftraurige wie total absurde Lebensgeschichten verbergen. Die Storys sind kleine Psychogramme, und sie sind alle – und das macht diese Theaterperformance aus – wahr.
Viktoria Lewowsky, freiberufliche Schauspielerin und Theatermacherin, liefert eine druckreife Definition dessen ab, was unter »dokumentarischem Theater« zu verstehen ist: »Man nimmt echte Geschichten, wahre Begebenheiten, verarbeitet sie zu Texten, die dann eben auf der Bühne von Schauspielern dargeboten werden. Die einfachste Methode als Ausgangspunkt sind Interviews, die man führt.«
IDEE Damit ist dann auch schon ganz grob der Arbeitsprozess des Kollektivs »Long Distance Affair« beschrieben, der sich hinter dem Dokumentarstück Sheyn vi di zibn veltn – beautiful as the Seven Worlds verbirgt. Ein paar Vorgaben sorgen zusätzlich dafür, dass aus dem Projekt etwas äußerst Spezielles wird. Erste Besonderheit: Die Interviews sollen ausschließlich mit jüdischen Menschen geführt werden, »die ganz im Hier und Jetzt leben«.
Zweite Besonderheit: Das Hier sind Bayern und Israel. »Außerdem wollten wir unbedingt multimedial arbeiten«, fügt Sofia Sokolov, Kunsthistorikerin und in einer Galerie tätig, hinzu. »Wir wollten die bildende Kunst mit dem Theater kombinieren, weil so etwas eine weitere Ebene schafft.«
Viktoria Lewowsky und Sofia Sokolov sind beide knapp über 30 und »genau am selben Tag in Kiew geboren«. Sie leben beide in München und hatten den Wunsch, »endlich einmal etwas zusammen zu machen«. Sie sind die Ideengeberinnen, die Initiatorinnen des Projekts »Long Distance Affair«, das vor rund eineinhalb Jahren mit ein paar vagen Vorstellungen seinen Anfang nahm. Die Ideen nahmen schnell Formen an. Ebenso rasch wurde den beiden klar, dass ein solches Projekt finanziert werden muss. Förderanträge mussten geschrieben, ein Organisationsplan erstellt werden. »Das war alles ganz schön viel Arbeit«, sagt Lewowsky.
Sobald die beiden jungen Frauen dann in Tel Aviv Anat Barzilay, Schauspielerin, Regisseurin und Leiterin der nach ihr benannten »Acting School«, für ihre Sache gewinnen konnten, nahm das Projekt Fahrt auf, und das sogar zweigleisig. »Anat hat sich um die Umsetzung auf israelischer Seite gekümmert, wir uns um die in Bayern.«
Es mussten in München und Tel Aviv jeweils zwei Jungschauspieler, eine Frau und ein Mann, sowie Spielstätten für die geplanten Aufführungen und Förderer gefunden werden. Und dann waren da noch die Interviews, alles in allem 15 an der Zahl, ebenfalls etwa halbe-halbe in Deutschland und Israel geführt. »Ich kenne da ja genug verrückte Leute aus der Künstlerszene«, sagt Sofia Sokolov und lacht.
UNTERSTÜTZUNG Sokolov und Lewowsky sahen sich zunächst im privaten Umfeld um, aber auch verschiedene jüdische Einrichtungen steuerten auskunftsfreudige Interviewkandidaten bei, wie etwa die Europäische Janusz Korczak Akademie (EJKA), die schließlich auch die Trägerschaft übernahm. »Wenn Brücken gebaut werden zwischen Bayern und Israel, dann ist uns das ein Anliegen«, sagt EJKA-Präsidentin Eva Haller.
Unterstützung kam zudem auch von der Brodt Foundation München, der Jewish Agency, vom Joint Distribution Committee (JDC), der Stiftung Zurückgeben und der Münchner Schauspielschule Zerboni.
Es geht vor allem um die Frage: Was bedeutet jüdische Identität im 21. Jahrhundert?
Die eingesammelten Lebensgeschichten gelangten unverblümt und authentisch ins Skript – ohne jegliche »Vorsichtshaltung« oder »Pietätsgedanken«. »Wir wollten weder politisch sein noch religiös, wir wollten keine klaren Aussagen treffen«, sagt Viktoria Lewowsky. Schließlich sollte es vor allem um die Frage gehen: Was bedeutet jüdische Identität im 21. Jahrhundert?
Fünf Wochen vor der Aufführung trafen sich die deutschen und israelischen Schauspieler zum ersten Mal in München und probten fast täglich. Die einen haben ein paar Worte Hebräisch gelernt, die anderen ein paar Worte Deutsch. Die Israelis haben auf Schnee gehofft, der ausgeblieben ist, die Deutschen machten sich gut zwei Monate später sehr neugierig auf zum Gegenbesuch nach Israel. Zunächst aber fand Ende Januar im Jüdischen Museum München, einem Kooperationspartner des Projekts, die Premiere statt – vor vollem Haus.
Auf der Bühne erzählen vier junge Schauspieler, zwei Männer, zwei Frauen, über sich. Szenenwechsel. Die Schauspieler ändern ihre Identität. Nächster Szenenwechsel. Indem sie in verschiedene Identitäten schlüpfen, geben die Darsteller den Geschichten aus den Interviews Gestalt – und vermitteln so ein Abbild der Mannigfaltigkeit jüdischer Gegenwartsbiografien. Sie sprechen Englisch, sodass tatsächlich nicht auszumachen ist, wer von ihnen aus Tel Aviv kommt und wer aus München. Die Namen – Marysol Barber-Llorente, Evelyn Genis, Yasmani Stambader, Jeremy Umani – helfen da auch nicht weiter.
GRENZEN »Genau das wollten wir: die Grenzen aufweichen«, sagt Sofia Sokolov. Gefühlt kommen alle Facetten jüdischer Identität zu Wort: Orthodoxe, Liberale, Säkulare, Junge, Alte, Frauen, Männer, queere Menschen, Israelis, Deutsche. Hinter die Szenen werden Fotos und Videos der Fotografen Benyamin Reich und Uri Zamir an die Wand projiziert.
Nach der Premiere finden noch zwei weitere Aufführungen im Münchner Pathos Theater statt. Jüdisches wie nichtjüdisches Publikum hatte sich zusammengefunden. Und natürlich unterscheidet sich da der Blick – so lachen die Zuschauer etwa nicht immer an denselben Stellen. Aber gut unterhalten fühlen sich alle.
In Tel Aviv folgen dann in der Anat Barzilay Acting School und dem Tzavta Theatre drei weitere Aufführungen.
Die beiden sind glücklich, dass alle ihre geplanten Vorstellungen problemlos haben stattfinden können.
Am Schabbat nach ihrer Rückkehr nach München, erzählt Sofia Sokolov, saß sie mit Freunden um den Tisch herum. Man sprach über die Seven Worlds. Und jeder begann, seine eigene Geschichte zu erzählen. »Wir können also weitermachen«, sagt sie und lächelt. Denn die beiden wie auch das ganze Team wollen unbedingt weitermachen. »Wir möchten Seven Worlds noch an anderen Orten zeigen, Berlin zum Beispiel wäre toll«, sind sich die beiden Macherinnen einig. Auch mit ganz neuen Ideen.
CORONA-KRISE Jetzt sind die beiden aber erst einmal sehr glücklich, dass alle ihre geplanten Vorstellungen problemlos haben stattfinden können. In Tel Aviv waren die Aufführungen trotz beginnender Corona-Krise noch »richtig gut besucht«, der deutsche Teil der Truppe ist gesund nach Deutschland zurückgekehrt. »Zwei Wochen später, und wir hätten absagen müssen«, sagt Viktoria Lewowsky, »was definitiv auch die richtige Maßnahme gewesen wäre, aber natürlich auch gleichzeitig wahnsinnig schade für unser Projekt.«
Die Situation jetzt bremse erst einmal aus, was weitere Vorstellungen angeht, und richtig planen lasse sich im Moment auch nichts. Deshalb tue man, was gerade die meisten Künstler tun: Man wartet ab.