Wenn sich ein herkömmlicher Flusslauf in einen Flussgang verwandelt – so wie im Titel zu Robert Schindels neuen Gedichten –, dann scheint sich etwas zu verlangsamen.
Hier steigt einer aus und geht zu Fuß weiter, um die Stationen seines Lebens gründlicher zu betrachten. Zwar ist Schindel mit bald 80 Jahren in einem Alter angekommen, in dem ihn irgendwie das Sterben anrauscht, wie er schreibt. Bisweilen vernimmt er altersweise auch »das Knistern des Daseins«.
In todesmüde Melancholie versinkt er trotzdem nicht in diesen Versen. Ganz und gar nicht – Schindel singt das Loblied auf den Kreisel, der wie ein Leitmotiv sein Leben durchtanzt, für eine gewisse hüpfende Unbeständigkeit steht und auf den Chanukka-Dreidel in seiner spielzeughaften Leichtigkeit verweist. »In alter Haut fühl ich mich splitterneu« – so äußert sich einer, der sich nicht so einfach dem Schicksal ergibt.
Mit dem Tod hat Schindel bereits als Kind Bekanntschaft gemacht, und er ist ihm entkommen: Den 1944 in Oberösterreich geborenen Sohn jüdischer Kommunisten bewahrten zwei Fürsorgerinnen davor, nach Auschwitz verschleppt zu werden – seine Mutter fand ihn später in Wien wieder, den Vater haben die Nazis ermordet. Mit seinem Roman Gebürtig feierte Schindel 1991 einen großen Erfolg, rund zehn Jahre später verfilmte er ihn selbst in Co-Regie mit Lukas Stepanik.
An der Ecke Ibn Gabirol und David HaMelech sieht er das tausendfüßige Israel vorübereilen.
Seinen letzten Gedichtband, Scharlachnatter, hatte er 2015 veröffentlicht. Nun meldet er sich nach längerem Schweigen zurück, mit seinem Spaziergang am Fluss entlang, der tief empfundene Traurigkeit mit nahezu aufgekratzter Lebenslust verschmilzt.
Es sind die Stationen eines Kosmopoliten, die Schindel abschreitet: London, Paris, Tel Aviv, Mont-Saint-Michel und Omaha Beach. Am Landeplatz der Alliierten gedenkt er derer, die ihr eigenes Leben eintauschten für seines – an der Ecke Ibn Gabirol und David HaMelech sieht er das tausendfüßige Israel vorübereilen, das dennoch fest dasteht, trotz aller Blutwunden, Ächzen, Zähneknirschen. (Diese Zeilen wurden lange vor dem 7. Oktober 2023 geschrieben.)
Flussgang ist aber auch ein Flanieren durch die Zeit, von der Kindheit bis ins Alter, und wenn der Autor dabei an Krankenhäusern und den Beschwernissen des »Nachsiebzigerleibes« nicht vorbeikommt, so gibt anderes wieder Kraft – wie Georg Stefan Troller zum Beispiel, den Schindel zum 97. Geburtstag bewundernd betrachtete, wie er lächelnd und ohne Stock in seiner Pariser Wohnung von Zimmer zu Zimmer rumpelt.
Dabei sind diese Gedichte voll von Sprachspielen, Wortschöpfungen, Mundart (das Ende des Buches hält ein Glossar bereit) und schlauen Aphorismen: »Wer das Unmögliche/nicht will«, weiß Schindel, »dem wird das Mögliche/unmöglich«. Kann sein, doch dann erfasst den Dichter gleich das »Scheißerne an der Angst«, wenn er mitten in Wien einen »Foxl« und einen Wolf erblickt, auch wenn das nur ein Traum sein könnte.
Überhaupt die Tiere, die Vögel vor allem: Sie beleben Schindels Gedichte wie eine Medizin gegen das Alter. »Das Vogelgezwitscher draußen/In der Frühe wie wichtig/Wird es mir/Wenn ich es vernehme nach dem Wachwerden.« Neben aller barocken Kraft gelingen dem Autor damit auch immer wieder solche Sätze von berückender Schlichtheit.
Flussgang, dieses Buch schreitet auch ein Dichterleben ab – immer wieder leitet Schindel seine Sätze mit Widmungen ein, mit denen ein innerer Dialog beginnt, mit Herta Müller, die er unterm Himmel von Hermannstadt trifft, mit Hans Joachim Schädlich, dem er ein skeptisches Gedicht über die Zukunft widmet, die nur noch wie eine Bretterbude dasteht.
Neben aller barocken Kraft gelingen dem Autor auch immer wieder Sätze von berückender Schlichtheit.
Von den Freundschaften, die hier beschworen werden, ist es nicht weit zur Liebe. Wie so viele dieser Poeme schweben auch die Liebesgedichte in der Spannung zwischen Innigkeit und Abschied, zwischen Eros und Schmerz. Dieser besteht nicht zuletzt in der Wehmut über die Veränderung der Liebe im Alter und aus der Erinnerung.
Eines der berührendsten Gedichte des Bandes heißt »Pfingsten« und wurde »Für Theresia« geschrieben. Es beschreibt einen Ausflug im alten BMW an einem lauen Tag, an dem das Paar zwei Füchsen begegnet. Und der Ahnung der Endlichkeit, die sich über den Anblick der herumtollenden Tiere schiebt – die weitere Aussicht geht hinaus ins »tote Gebirge«.
Mitunter gewinnt man den Eindruck, dass sich Schindel mit Flussgang an einer Lebensbilanz versucht; eine vorläufige ist es ganz sicher. Er, der sich als Hilfsarbeiter bei der Post, als Nachtredakteur für Agence France-Press und Bibliothekar durchgeschlagen hat, wegen schlechter Führung vom Gymnasium flog und die »Wiener Kommune« gründete, der mit H. C. Artmann und Oskar Werner im »Café Hawelka« abhing und in arrivierteren Jahren als Vorsitzender der Ingeborg-Bachmann-Jury agierte, er hat wahrlich viel erlebt.
So vielfältig, prall und überbordend präsentieren sich auch seine neuen Gedichte. Ihnen ist anzumerken, wie schwer Schindel der Abschied fällt von seinen vielen Aktivitäten. Das Erwachen der Vögel eröffnet Flussgang, und die Tiere beschließen ihn: »Jeder Morgen mit Rotkehlchen bevölkert./In diesem Gezwitscher möchte ich einschlafen/Von oben von unten Gezwitscher.«
Robert Schindel: »Flussgang«. Suhrkamp, Berlin 2023, 95 S., 24 €