Standpunkt

Viele Wege führen nach Jerusalem

Vorbild Israel: Im jüdischen Staat ist es selbstverständlich, sich zum Judentum zu bekennen, ohne religiös zu sein. Foto: Flash 90

Manche Juden sind religiös. Viele sind es nicht. Und diejenigen, die es nicht sind, finden sich oft kaum wieder in den derzeitigen institutionalisierten Strömungen des Judentums. Das gilt zuerst für das orthodoxe Judentum mit seinem Fokus auf strenger Einhaltung traditioneller religiöser Regeln, deren unbedingte Verbindlichkeit ausgehend von einem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild und einer egalitär-kosmopolitischen Werteorientierung sich vielen Menschen nicht unmittelbar erschließen.

Doch auch das »nichtorthodoxe« Judentum mit seinen verschiedenen religiösen Strömungen, von liberal bis konservativ, übt auf einen großen Teil junger Juden keinen großen Reiz aus. Warum? Es ist schließlich – in einem positiven Sinne! – politisch korrekt, müsste also eigentlich mit seiner progressiven Ethik anziehend wirken. Und doch erscheint es irrational mit einer freikirchlich anmutenden Betonung von Glaube und Spiritualität – und schreckt damit manche noch mehr ab als die Orthodoxie.

Glaube Aber fast überall dort, wo Judentum draufsteht – ob in jüdischen Schulen oder bei jüdischen Kulturveranstaltungen, bei Begegnungsprojekten mit Juden und insbesondere in jüdischen Gemeinden –, ist, wenn man von Antisemitismus und Schoa absieht, in erster Linie »Glaube« drin.

Dabei befinden sich die jüdischen Gemeinden in Deutschland in einer katastrophalen demografischen Lage: Im Jahr 2014 kamen laut Statistik der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden bei den Gemeindemitgliedern auf 1335 Todesfälle nur 243 Geburten, auf 528 Austritte aus den Gemeinden nur 68 Übertritte zum Judentum. Natürlich gibt es jüdisches Leben auch außerhalb der Gemeinden, und natürlich kommen viele, die austreten, wieder zurück. Aber der Trend zur Abwendung ist klar, und es sind gerade die Jungen, die gehen.

Meine These: Es handelt sich nicht um eine Abwendung vom Jude- oder Jüdin-Sein generell. Ich glaube, ganz im Gegenteil, dass ein großer Teil auch der jüngeren Mitglieder unserer Gemeinschaft eine positive Einstellung zur jüdischen Kultur hat, sich gerne zum Judentum bekennen würde – gerade und auch in einer Zeit, in der wir immer mehr auf Hass und Ablehnung von außen stoßen. Was aber auf Skepsis stößt bei jenen, die in einem sehr säkularen, urbanen Umfeld verwurzelt sind, ist Religion: nicht so sehr die traditionellen Riten als die »Ideologie« um sie herum.

zugehörigkeit Klar, es ist gerade die postsowjetische jüdische Community, zu der auch ich gehöre, die durchgehend atheistisch aufgewachsen ist und die vertraut ist mit einem Selbstverständnis vom Judentum als »Nationalnost«, gewöhnlich mit Nationalität, besser mit Ethnizität übersetzt. Aber auch unter den US-amerikanischen Juden sehen sich nach der viel diskutierten repräsentativen Studie des US-Thinktank Pew Research Center aus dem Jahr 2013 von den nach 1980 geborenen 32 Prozent als nicht religiös und – das ist die Pointe – trotzdem als dem Judentum zugehörig an. In Israel definierten sich im Jahr 2010 nach offiziellen Statistiken 42 Prozent der jüdischen Bevölkerung als säkular, 25 Prozent als traditionell und nur rund 30 Prozent als religiös.

Was aber heißt es, säkularer Jude, säkulare Jüdin zu sein? Worauf kann die Identität säkularer Juden basieren? Es muss mehr sein als ein »Wir sind anders«, mehr sein als die Fremddefinition durch die Antisemiten aller Couleur.

Ich sehe vier Säulen, auf die wir säkulare Juden uns stützen können und stützen sollten, um eine 3000-jährige Kultur nicht untergehen zu lassen: Tradition, Israel, Erinnerung und Universalismus. Ja, an erster Stelle dieses Plädoyers für ein modernes Judentum steht Tradition. Selbstverständlich sollten säkulare Juden jüdische Feste feiern, die Riten des Lebenszyklus begehen und jüdische Leittexte wie die hebräische Bibel oder den Talmud studieren, und das heißt: ernsthaft und gründlich studieren.

Fundament Denn ohne diesen Bezug zur Tradition ist säkulares Judentum ein säkulares Nullum. Aber diese, unsere Tradition kann man auch ohne religiöses und spirituelles Weltbild in sein Leben einfügen, sie ohne moralischen Rigorismus neu interpretieren und sich mit ihr kritisch und bejahend zugleich auseinandersetzen. Kurz: Wir brauchen keine Rabbiner, um die Tora zu lesen, aber wir müssen sie lesen.

Eine pulsierende säkulare jüdische Kultur existiert, nicht in der Diaspora, aber in Israel. Schon daher muss sie auch Bestandteil des Lebens von Juden weltweit werden, die sich als säkular verstehen. Solidarität mit Israel ist wichtig, wichtiger ist es, Sprache, Literatur, Musik, Küche und Alltag der Israelis zu kennen.

Und auch, wenn der israelische säkulare Lebensstil manchmal flach erscheint, kann die Diaspora viel von den Israelis übernehmen: mindestens den Optimismus und die Toughness.

erinnerung Es gibt keine Gemeinschaft ohne gemeinsame Erinnerung. In unserer Bildungsarbeit müssen wir daher ein Narrativ vermitteln, das erklärt, warum wir heute dort sind, wo wir sind, warum wir die sind, die wir sind. Dazu gehört auch, die Geschichten der verschiedenen jüdischen Sub-Communitys zu erzählen: nicht nur die der Alteingesessenen und postsowjetischen Zuwanderer, sondern auch die der sefardischen, der amerikanischen, der äthiopischen Juden. Dabei darf unsere Erinnerung kein beliebiges Konstrukt darstellen. Wir müssen die Geschichte so erzählen, wie sie war, nicht, wie wir sie gerne gehabt hätten. Und konkret, woran können wir uns erinnern?

Die jüdische Geschichte ist bunt, fröhlich und traurig zugleich, und sie umfasst unter anderem: den Auszug aus Ägypten (und zwar nicht nur den Mythos, sondern auch die interessanten Sichtweisen, wie sie aktuell dazu in der Wissenschaft diskutiert werden), David und Salomon, die babylonische Gefangenschaft, den Makkabäeraufstand, die Zerstörung des Zweiten Tempels, das goldene Zeitalter in Spanien, die Leistungen – sowie auch die Fehler – der Assimilationsepoche, die Schoa die Gründung des Staates Israel 1948 und die sowjetisch-jüdischen Dissidenten.

Universalismus Zuletzt: Wir brauchen eine Ethik, die sich zu den Ideen der Aufklärung, zu Freiheit und Gleichheit, bekennt und die auf universalen Werten basiert. Das heißt für uns: unbedingter Einsatz gegen Rassismus, Homophobie und andere Verletzungen der Menschenwürde. Auch für eine faire Lösung des Nahostkonflikts. Ja, es gibt eine Spannung zwischen ethnokultureller Loyalität und ethischem Universalismus, und vielleicht ist dieser Widerspruch unauflösbar, aber Widersprüche gehören zum Leben.

Ich hoffe mit diesen gerade beschriebenen »Säulen«, also Elementen, die ich für wesentlich halte, einen Impuls zu geben für die, die sich eine säkulare Zukunft für das Judentum wünschen. Und zwar eine, die etwas anderes ist als ein leeres »anything goes« auf der einen Seite und als eine Rechtfertigung für einen inhumanen Ethnozentrismus auf der anderen.

Selbstbewusst müssen wir sagen: Der Wunsch ein religiöses Leben zu führen, ist legitim. Ebenso legitim ist es aber, ein vom Glauben freies und zugleich jüdisches Leben zu führen. Viele Wege führen nach Jerusalem. Einer davon ist säkular.

Der Autor ist Jurist in Hamburg und ehemaliger Stipendiat des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerkes (ELES).

Programm

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