»Alle Filme sind gleich, aber manche sind gleicher als andere« – ausgerechnet mit diesem abgewandelten George-Orwell-Zitat eröffnete Jury-Präsident Sam Mendes am Samstagabend die feierliche Preisverleihung, mit der am Wochenende die 73. Filmfestspiele von Venedig zu Ende gingen.
Der britisch-jüdische Regisseur, der die zwei letzten James Bond-Filme gedreht hat, drückte mit diesem Zitat aber nicht nur die »Qual der Wahl« aus, vor die er sich und seine Jurykollegen gestellt sah. Ironisch gab Mendes damit auch zu verstehen, dass die um den Goldenen Löwen konkurrierenden Filme im diesjährigen Wettbewerb so verschieden waren, dass sie sich kaum miteinander vergleichen lassen.
Rache Wie soll man zum Beispiel den mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Sieger-Film The Woman Who Left des philippinischen Regisseurs Lav Diaz, der Motive einer Tolstoi- Erzählung aus dem 19. Jahrhundert um Verbrechen, Rache und Erlösung in die philippinische Gesellschaft der 90er-Jahre adaptiert, mit einem Film vergleichen, der in einem deutschen Konzentrationslager in Russland spielt?
Das Signal, das vom Festival in Venedig in diesem Jahr ausgeht, scheint deshalb zu lauten: Alles ist möglich; es gibt keine Verbindlichkeit der Form mehr, ob Schwarz-Weiß oder 3D, ob Western, Gesellschaftssatire oder Schoa-Drama – jeder Film sucht sich seinen eigenen Kanon, sein eigenes Format.
Ebenjenes Schoa-Drama Paradise des 79-jährigen russischen Regieveterans Andrej Kontschalowski ist klassisch und experimentell zugleich und wurde – zu Recht – mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet. Der Film spielt im Zweiten Weltkrieg zwischen den Jahren 1941 und 1944 und erzählt die Geschichte von Olga, Jules und Helmut, deren Wege sich in Frankreich kreuzen. Olga, eine aristokratische Immigrantin, gehört zur Résistance. Der Franzose Jules kollaboriert mit den Nazis, und Helmut ist ein SS-Mann mit hohem Dienstgrad und mittelstark ausgeprägtem Gewissen.
opfer und täter Schnell wird deutlich, dass der beklemmende Schwarz-Weiß-Film um Opfer und Täter zwei Ebenen besitzt: Die eine zeigt die Helden im Spielgeschehen selbst, wie sie sich während der Schoa verhalten haben. In den anderen Einstellungen sprechen Olga, Jules und Helmut direkt in die Kamera und versuchen, vor einer Art göttlicher Filmkamera ihr Verhalten zu entschuldigen. Selten hat man bei einer Filmvorführung in Venedig ein Werk gesehen, das so bestechend klar und fesselnd inszeniert wurde – und beim Publikum eine solche Stille hervorrief.
Ebenfalls geehrt wurde das mit Natalie Portman in der Hauptrolle besetzte Biopic Jackie, in dem Regisseur Pablo Larrain die Tage rund um das Attentat auf John F. Kennedy aus der Perspektive von dessen Frau Jacqueline nachstellt. Der vorab als Favorit für den Goldenen Löwen gehandelte Film ging in der begehrtesten Kategorie zwar leer aus, wurde aber immerhin für das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Eindringlich und aus ungewöhnlicher Perspektive stellt Larrain in dem Film die bekannten historischen Ereignisse nach und zeigt sie damit in neuem Licht. Jackie Kennedys Status als Ikone macht der Film schon in einer der ersten Szenen bewusst, in denen man sieht, wie sie jenen berühmten rosa »Pillenschachtel-Hut« aufsetzt, der ihr rosa Wollkostüm mit den schwarzen Bündchen so perfekt ergänzt. Fast reflexhaft begreift man, dass dies der Tag der Ermordung ihres Gatten John F. Kennedy ist – der 22. November 1963.
Anstrengungen Portmans Auftritt ist das, was man eine »Tour de Force« nennt: Sie versucht, tongenau die Balance zwischen Schüchternheit und Unerfahrenheit im Umgang mit den Medien darzustellen, die im Fall von Jackie Kennedy keineswegs mit fehlendem Selbstbewusstsein gleichzusetzen waren.
Leider aber löst der Film zuletzt nicht wirklich ein, was er verspricht: Am Ende geht es statt um ihr Leben doch wieder nur darum, die historische Größe von John F. Kennedy im Schicksal seiner Gattin zu spiegeln. (mit ja)