Daniel Kehlmann hat, wie es scheint, mehrere neue Bücher geschrieben. Da ist der Roman über einen Künstler, der jede Sekunde seines Lebens an Film denkt, ja geradezu davon abhängig ist – und dieser Passion vieles, mitunter auch das Wohlergehen seiner Mitmenschen, unterordnet. Da ist ein Exilroman, der die Schwierigkeiten, Konflikte und Widersprüche veranschaulicht, mit denen viele notgedrungen Ausgewanderte im Aufnahmeland konfrontiert sind. Da ist aber auch ein Roman, der die radikale Brutalität der nationalsozialistischen Gesellschaft zeigt und deren inneren Kitt offenlegt: den allumfassenden, mörderischen Judenhass.
Lichtspiel heißt Daniel Kehlmanns lange erwartetes Werk, das all diese Bücher in sich vereint. Auf über 450 Seiten verschränkt es viele Perspektiven zu einem facettenreichen und fesselnden Leseerlebnis. In den Mittelpunkt rückt der 1975 geborene Erfolgsschriftsteller den Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst (1885–1967) und dessen ambivalente Rolle im NS-Filmbetrieb.
Zunächst aber versetzt Kehlmann den Leser nach Los Angeles, wo der Regisseur, der in der Weimarer Republik als »roter Pabst« galt, mit seiner Familie Zuflucht vor den Nazis findet, in Hollywood jedoch nicht Fuß fassen kann. Ob es um Pabsts bescheidene Englischkenntnisse oder um die ans Groteske grenzende Oberflächlichkeit seiner kalifornischen Gesprächspartner geht: Kehlmann setzt die schon in seinem Roman Die Vermessung der Welt fulminant erprobte Situationskomik vielfach gezielt und präzise ein.
In der wohl stärksten Szene des Romans wird die geballte Niedertracht der Nazis offenbar
Ebenso souverän gelingt es ihm, Lichtspiel streckenweise zu einem Thriller zu formen – etwa, wenn er G. W. Pabst in Berlin zum Gespräch mit dem NS-Propagandaminister Joseph Goebbels antreten lässt. In dieser wohl stärksten Szene des Romans wird die geballte Niedertracht der Nazis offenbar. Goebbels, der die deutsche Filmindustrie beherrscht und überhaupt beinahe allmächtig erscheint, wird als eine sadistische, ja geradezu diabolische Figur gezeichnet, die etwa an Joker aus den Batman-Filmen denken lässt.
»Der Minister«, wie er durchgehend genannt wird, möchte Pabst dazu bringen, Filme zu drehen, verlangt von ihm eine Distanzierung von seiner »roten« Vergangenheit und droht Pabst unverhohlen mit dem Konzentrationslager, um schließlich mit der Totalität des NS-Überwachungsstaates zu prahlen. Letztlich fügt sich Pabst und inszeniert mehrere Streifen für Bavaria Film.
Wie aber verschlug es G. W. Pabst aus Hollywood ins »Dritte Reich«? »Wir sind wegen Mama gekommen, plötzlich brach der Krieg aus, und nach meinem Sturz von der Leiter war ich gefangen!« So lapidar fasst Pabst im Gespräch mit seiner Frau die in Grundzügen den Tatsachen entsprechenden, mit tragischen Zufällen gespickten Geschehnisse zusammen, die 1939 dazu führten, dass er mit seiner Familie in der »Ostmark« (so die Bezeichnung für das an Nazi-Deutschland angeschlossene Österreich) strandete. Kehlmann erzählt Trude Pabst als eine an dieser faktischen Gefangenschaft verzweifelnde Frau, die sich nicht – wie ihr von einer Mischung aus Pragmatismus und künstlerischem Ehrgeiz angetriebener Mann – anpassen möchte.
Die Romanfigur G. W. Pabst trifft auf Joseph Goebbels und Leni Riefenstahl.
Ihr (fiktiver) gemeinsamer Sohn Jakob wächst indes im NS-Staat auf. Er lernt schnell, sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen, und verinnerlicht den sämtliche Lebensbereiche durchziehenden Antisemitismus. Die Auswirkungen dieser Erziehung werden deutlich, als der jugendliche Jakob seinem Vater erklärt, dass es Wichtigeres als Filme gebe – etwa den »Kampf« für »das Reich und für unseren Führer«.
Darf man über Nazis lachen? – Kehlmanns feine Komik lässt dem Leser keine andere Wahl
Doch selbst in dem ebenso umfangreichen wie düsteren, während des Zweiten Weltkriegs spielenden Teil des Romans schafft Daniel Kehlmann Momente der Heiterkeit: Etwa, wenn er G. W. Pabst bei Dreharbeiten auf Nazi-Filmstar Leni Riefenstahl treffen lässt, die er als eine grenzenlos überhebliche, eigentlich aber äußerst steife und unbegabte Schauspielerin zeichnet. In einer weiteren Szene gerät Riefenstahl durch ihr miserables Englisch vollends zur Karikatur – womit die Frage beantwortet wäre, ob man über Nazis lachen darf: Kehlmanns feine Komik lässt dem Leser keine andere Wahl.
Präzise schildert er in den rahmenden Anfangs- und Schlusskapiteln die unerträglich seichte und verlogene Atmosphäre in Nachkriegsösterreich, wo der Judenhass die Kriegsniederlage scheinbar unbeschadet überdauert hat. Lichtspiel ist auch ein Roman über die Zumutungen des Alters und die Tragikomödie, in die sich jedes Leben mit dem einsetzenden körperlichen und geistigen Verfall verwandelt. Ebenso wie die wohl dosierten surrealen Elemente ist dies ein weiteres wiederkehrendes Motiv in Kehlmanns Oeuvre.
Vor allem aber ist sein neues Buch eine mitsamt aller Ambivalenzen erzählte, kenntnisreiche Hommage an den Film als Verbindung von Kunst und Handwerk, Genie und Teamwork, Autonomie und Verstrickung. Dieser vielgestaltige Roman hat auch seine zärtlichen Momente. Ist es vermessen, sie als einen stillen Gruß des Autors an seinen Vater, den Film- und Theaterregisseur Michael Kehlmann, zu lesen?
Daniel Kehlmann: »Lichtspiel«. Roman. Rowohlt, Hamburg 2023, 480 S., 26 €