Die 60. Kunstbiennale in Venedig steht unter keinem guten Stern. Ähnlich wie der Eurovision Song Contest in Malmö wurde die Kunstschau, die eigentlich Weltoffenheit signalisieren wollte und von dem Brasilianer Adriano Pedrosa unter dem Motto »Foreigners everywhere« kuratiert wurde, von politischen Protesten begleitet.
Die Vereinigung »Art Not Genocide Alliance« (ANGA) hatte im Vorfeld zum Boykott des israelischen Pavillons aufgerufen. Nachdem klar war, dass die Ausstellung (M)otherland, in der die Künstlerin Ruth Patir anhand von Skulpturen und Videokunst Mutterschaft kritisch hinterfragt, im israelischen Pavillon nur unter Polizeischutz hätte stattfinden können, beschlossen die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit Mitte April, die Ausstellung in Venedig doch nicht zu zeigen, um sich von keiner Seite instrumentalisieren zu lassen.
An den Fenstern des israelischen Pavillons, der danach geschlossen blieb und vor dem noch heute Carabinieri patrouillieren, prangt ein Schild. »Die Künstlerin und Kuratorinnen des israelischen Pavillons werden die Ausstellung eröffnen, wenn ein Waffenstillstand und eine Freilassung der Geiseln erreicht ist«, lesen die Besucher der Biennale.
Aus plakativen Kunstwerken spricht der Wille, die Geschichte umzuschreiben.
Einige der ANGA-Aktivisten sahen sich durch die Schließung des israelischen Pavillons bestätigt. Deren Proteste haben Spuren hinterlassen. Auf den ANGA-Aufkleber trifft man in Länderpavillons wie dem von Finnland. Das Bekenntnis zum Antikolonialismus zieht sich in diesem Jahr als roter Faden durch die Beiträge in den Länderpavillons. Viele zeigen bewusst Kunst aus kolonialen Kontexten oder widmen sich der Erforschung der Aborigines (wie Australien, das dafür den Goldenen Löwen der Biennale gewann).
»Boycott Israeli Pavillon, Free Palestine«
In den Arsenale-Werkhallen ist die Videoserie des Kollektivs »Disobedience Archive« mit einer Palästina-Fahne und der Aufschrift »Boycott Israeli Pavillon, Free Palestine« versehen. Die palästinensische Künstlerin Dana Awartani widmet in Solidarität mit Gaza ihr Werk explizit arabischen Stätten, die durch Bomben und Bulldozer zerstört wurden.
Gewebte Teppiche, Fotos und Kunst aus Ländern des Globalen Südens dominieren die diesjährige Biennale. Aus den plakativen Kunstwerken spricht der Wille, die (Kunst-)Geschichte umzuschreiben und aus der Perspektive der Unterdrückten neu zu erzählen. In diesem dichotomen Schwarz-Weiß-Weltbild (der »bösen USA und Israels«) werden sowohl queere Künstler als auch die vor vielen Jahren Kolonisierten untergebracht.
Nur wenige Länderpavillons durchbrechen dieses simple Narrativ, so etwa der polnische Pavillon. Mit »Repeat after me II« sind hier Stimmen von aus der Ukraine Geflüchteten, vom Krieg Traumatisierten zu hören, die die Geräusche der Bomben und Angriffsflieger nachahmen und das Publikum dazu animieren, die Geräusche zu imitieren.
Der von Cagla Ilk kuratierte deutsche Pavillon präsentiert sich weltoffen und vermag zu überzeugen. Widmete sich die Einzelausstellung Redemption Now der israelischen Multimedia-Künstlerin Yael Bartana im Jüdischen Museum Berlin 2021 noch der fiktiven Aneignung und zeigte die von den Nationalsozialisten als »entartet« gebrandmarkte Kunst im öffentlichen Raum, so fordert sie mit der Ausstellung Thresholds gemeinsam mit dem deutschen Künstler türkischer Abstammung, Ersan Mondtag, in Venedig dazu auf, Schwellen zu überschreiten und die Welt zu erneuern.
Dem von jeher faschistisch anmutenden Bau setzt Mondtag das Monument eines Unbekannten entgegen. Die Suche im Staub ist der Ausgangspunkt. So stoßen die Besucher am Eingang auf einen aufgetürmten Berg Baustaub, Erde aus Anatolien und Schutt aus den Giardini.
Betritt man den deutschen Pavillon, erschließt sich einem eine gelungene Symbiose aus den weltoffenen Ansätzen der beiden Künstler. Wie in einem Planetarium können die Besucher in eine Kuppel schauen und sich zu neuen Galaxien gleiten lassen. In einem Akt der Erlösung transportiert das Generationenschiff Light to the Nations (Licht den Völkern) Menschen zu neuen Planeten. Verheißungsvoll steht es angesichts der menschengemachten Zerstörung des Planeten Erde im Dienst der Menschheit.
Den Rahmen von Yael Bartanas Installation bietet die Kabbala
Den Rahmen der Arbeit bietet die Kabbala. Yael Bartana überlagert die Struktur des Raumschiffs mit dem Sephirot-Diagramm. Bartanas Installation bietet der gesamten Menschheit eine Zukunft. In dem Video »Farewell« tanzen Tänzerinnen eingangs in einer Zeremonie, heben die Grenzen von Zeit und Raum auf und tragen Tiermasken. Der Sound kommt aus einem Lautsprecher am seitlichen Rand der Videoleinwand, der dort so angebracht ist wie eine Mesusa.
In einem Erlösungsakt können Menschen zu neuen Planeten und Galaxien gelangen.
In einem weiteren Raum kann man die Arbeitsutensilien und Zeugnisse von Mondtags an einer Lungenerkrankung verstorbenem Vater besichtigen. Über die Dokumente aus dem Nachlass von Hasan Aygün erschließt sich die Biografie des ehemaligen Gastarbeiters. Die Erde wird in Bartanas Utopie im Sinne von »Tikkun Olam« zum erneuerten Ort und in Mondtags Entwurf als umkämpfter Ort selbst zur Migrantin. Inmitten der rauen Landschaft der Insel La Certosa haben vier weitere Kunstschaffende schließlich einen Resonanzraum für diese Utopien geschaffen.
So ist in diesem Jahr ausgerechnet der deutsche Pavillon einen Besuch der Biennale in Venedig wert. Abseits der antikolonialen Beschwörungen, die unter dem Stichwort der erstmaligen Mitwirkung von Vertretern des Globalen Südens zum neuen Dogma geworden sind, lässt sich hier tatsächlich in die Utopie einer besseren Welt eintauchen.
Die 60. Kunstbiennale ist noch bis zum 24. November in Venedig zu sehen.