Der inhaltsreiche Sammelband Alma Maters Töchter im Exil füllt eine – erst bei der Lektüre deutlich zutage tretende – Lücke im bisherigen Forschungsstand: Die Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in der Nazizeit. Die 14 Beiträge ausgewiesener Fachleute behandeln nicht nur einen besonderen Aspekt der Geschichte der NS-Gewaltherrschaft. Sie schreiben ein Stück Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, verstehen sich als Teil der Genderforschung und enthalten eine Reihe von biografischen Skizzen mit bemerkenswerten Lebensläufen, aus denen sich die allgemeine Geschichte zusammensetzt.
In einem klugen Übersichtsartikel führen die Herausgeberinnen des Bandes, Inge Hansen-Schaberg und Hiltrud Häntzschel, in die besonderen Bedingungen ein, denen die vom NS-Regime vertriebenen Wissenschaftlerinnen im Exil ausgesetzt waren. Frauen waren in den 30er-Jahren weltweit noch Ausnahmen im Wissenschaftsbetrieb. Auch wer sich in Deutschland hatte habilitieren können, durfte nicht mit einer nahtlosen Anknüpfung an die Karriere rechnen. Es kam auf Alter, Exilland, Flexibilität und Vernetzung an. Das galt umso mehr für diejenigen, die noch keinen internationalen Ruf hatten.
Reform In weiteren Beiträgen werden Einzelaspekte exemplarisch behandelt: Regine Erichsen schreibt über Frauen im türkischen Exil und ihren Beitrag zur türkischen Unterrichtsreform und schließt damit eine Lücke in der sonst gut erforschten deutsch-türkischen Exilgeschichte. Marion Röwerkamp untersucht die berufliche Entwicklung deutscher Juristinnen in England, Palästina und den USA. Zu den üblichen Schwierigkeiten im Exil kamen bei ihnen noch die völlig anderen Rechtssysteme in den Aufnahmeländern hinzu.
Das anglo-amerikanische Common-Law und das in Palästina noch weitgehend herrschende osmanische Recht hatten nicht viel mit dem deutschen und übrigen kontinentaleuropäischen Recht zu tun. Erstaunlich viele vertriebene Wissenschaftlerinnen hatten mathematisch-naturwissenschaftliche Schwerpunkte. Renate Tobies untersucht diesen Wissenschaftsbereich, und Cordula Tollmien beschreibt die Wiederbegegnung der bereits 1918 mit einer Arbeit über die Allgemeine Relativitätstheorie habilitierte Emmy Noether mit Albert Einstein in den USA, wo die anerkannte Mathematikerin schon 1935 verstarb.
Empathie Beiträge über die Germanistinnen Käte Laserstein und Agathe Lasch, deren Emigration scheiterte, sowie über die Kunsthistorikerin Lotte Labowsky, eine Schülerin Aby Warburgs, vermitteln Eindrücke der existenziellen Probleme, mit denen Wissenschaftlerinnen im Exil zu kämpfen hatten. Christine von Oertzen untersucht die Fluchthilfekorrespondenzen der International Federation of University Women und behandelt damit einen bislang kaum beschriebenen Aspekt internationaler Unterstützungsarbeit.
Der Sammelband bringt den von Empathie für die vertriebenen Wissenschaftlerinnen getragenen Wunsch zum Ausdruck, deren prekäre Lebenssituationen und dieses Kapitel der deutschen Geschichte wissenschaftlich fundiert einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
»Alma Maters Töchter im Exil. Zur Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in der NS-Zeit«. Hrsg. von Inge Hansen-Schaberg und Hiltrud Häntzschel. edition text + kritik, München 2011, 297 S., 24,80 €