Der Rechtsrutsch in Frankreich ist kein Einzelfall und zum Teil auf die Schwäche der Linken in der Verteidigung der freiheitlichen Ordnung zurückzuführen.» Verantwortlich hierfür sei das Festhalten vieler Linker an Political Correctness. Dies ist die These des streitbaren israelisch-schweizerischen Publizisten und Psychoanalytikers Carlo Strenger. Er versteht sich als Vertreter des israelischen Friedenslagers.
Das Ideal der Political Correctness, dem viele Liberale und Linke seit Mitte der 80er-Jahren huldigten, habe maßgeblich dazu beigetragen, dass sich heute ausgerechnet rechtsradikale und populistische Kräfte als Verteidiger der liberalen Werte der Aufklärung in Szene setzten – und von vielen Wählern in Europa gewählt würden. Für Strenger eine paradoxe, aber selbstverschuldete Situation.
Populismus Strenger hat einen dünnen, philosophisch angehauchten Essayband vorgelegt. In ihm verteidigt er entschieden die Werte der Aufklärung. Vor allem jedoch tritt er dafür ein, für diese Werte offensiv zu kämpfen. Dies sei die einzige Möglichkeit, die weltweit in Aufschwung befindlichen populistischen Bewegungen und dschihadistischen Kräfte zu bekämpfen.
Strenger hebt hervor: «Wenn die Fähigkeit verloren geht, die eigene Lebensform und ihre Werte argumentativ zu verteidigen, ist der Weg frei für rückwärtsgewandte Rechtsparteien, deren Programm am Ende darauf hinausläuft, dass Deutschland den Deutschen gehört, Frankreich den Franzosen und die Schweiz den Schweizern.»
Die Idee zu einem Essay über «das Recht und die Pflicht der freien Welt», ihre Werte offensiv zu verteidigen, hatte Strenger schon länger. Die Attentate auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt sowie das Erstarken rechtsradikaler Gruppierungen bestärkten ihn in seinem Vorhaben. Der zentrale, das Buch durchziehende Begriff ist der der «zivilisatorischen Verachtung» – als bewusster Gegenpol zur Political Correctness.
Der demokratische Westen habe die Pflicht, sich seine Werte bewusst zu machen und diese frei von Schuldgefühlen zu vertreten. Das Zurückweichen des Westens vor der 1989 von Khomeini verhängten Fatwa gegen Salman Rushdie und vor den Todesdrohungen gegenüber Ayaan Hirsi Ali markieren für Strenger ein moralisch-politisches Scheitern: «Man hat den Eindruck, als sei die Verteidigung der freien Welt an die Rechten delegiert worden – eine Entwicklung, die Linksliberale alarmieren sollte.»
11. September Strenger zeichnet verschiedene historische Ereignisse nach, in denen der Westen sich in einen Prozess der «Selbstkasteiung» begeben habe. Der Anschlag vom 11. September 2001 wie auch die westlichen Gegenreaktionen darauf – der Afghanistan- und der Irakkrieg – sind für ihn Belege für politisches Scheitern.
«Knapp 15 Jahre später kann die Bilanz nur lauten, dass Bushs Krieg gegen den Terror ein totaler Fehlschlag war. Afghanistan versinkt im Chaos, der Irak steht im Begriff auseinanderzubrechen.» Nachdrücklich mahnt der Philosoph: «Will der Westen seine Werte und seine Lebensweise nicht nur militärisch, sondern auch argumentativ verteidigen, besteht die einzige Möglichkeit in der Rückbesinnung auf die Prinzipien der Aufklärung.» Dies beinhalte auch scharfe Kritik an repressiven Regimes wie dem Iran.
Das in seinem Essayband entworfene Konzept der zivilisierten Verachtung nötigt uns eine große Kraftanstrengung ab, meint der Autor. Es müsse auf sorgfältig abgewogenen Argumenten beruhen und richte sich «gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte», jedoch niemals gegen Menschen: «Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren.»
Strenger führt einige Beispiele an, die dieser rationalen, ressentimentfreien Grundhaltung widersprechen: Thilo Sarrazins Populismus gegenüber muslimischen Einwanderern wie auch das rechtskonservative Verdikt, dass der Islam per se mit der westlichen Demokratie nicht vereinbar sei. «Es ist kurios, wie leicht es Verfechtern dieser These fällt, die Tatsache zu ignorieren, dass die größten Völkermorde der Menschheitsgeschichte von christlich geprägten Nationen des Westens verübt wurden und keineswegs vom Islam.»
Charta Entscheidend für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts sei die Bereitschaft aller Beteiligten, die historischen Fakten «und damit die Geschichte des anderen» zu akzeptieren. Strenger verweist auf die Charta der Hamas, die weiterhin eine Dämonisierung Israels beinhaltet. Er verweist jedoch auch auf die Weigerung eines Teils der israelischen Öffentlichkeit, die Analysen der «Neuen Historiker» zu akzeptieren. Die Identität Israels beruhe weiterhin auf dem Narrativ, dass Israel moralisch fehlerfrei sei.
Entscheidend für einen Fortschritt sei die Fähigkeit, Kränkungen zu ertragen. Abschließend hebt Strenger hervor: «Liberale werden in Israel zwar nicht unterdrückt oder verfolgt, aber wir sind eine Minderheit, die politisch immer weniger Einfluss hat.» Die Leidenschaft für die Freiheit sei «eine unentbehrliche Vorbereitung auf zukünftige Gefahren».
Carlo Strenger: «Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit». Suhrkamp, Frankfurt 2015. 104 S., 10 €