Geschichte

»Verstehen, wie man wegschauen konnte«

Bärbel Schäfer Foto: Marco Limberg

Frau Schäfer, in Ihrem Buch »Meine Nachmittage mit Eva: Über Leben nach Auschwitz« erzählen Sie die Geschichte von zwei Frauen – die der Schoa-Überlebenden Eva Szepesi und Ihre eigene. Was verbindet diese beiden Frauen?
Uns verbindet das Land und Familien, die in diesem Land leben. Täterfamilien und Opferfamilien. Die Begegnung mit Eva Szepesi hat mir die Chance gegeben, die Biografie der ungarisch-jüdischen Familie unmittelbar zu erleben. Ihr Gestern trifft auf das Gestern meiner Großeltern in diesem Land. Und die Fragen über die Haltung meiner Großeltern im Krieg haben auch Berührungspunkt mit Eva.

Eva Szepesi ist heute 85 Jahre alt: Wie haben Sie beide sich kennengelernt?
Wir haben uns auf einem Auschwitz-Kongress des Frankfurter Schauspielhauses und auf einer Lesung am 27. Januar getroffen. Aus diesen ersten zaghaften Begegnungen ist dann große Neugierde geworden und die Lust, mehr Zeit miteinander zu verbringen. So kam es zu den Nachmittagen an ihrem schönen Wohnzimmertisch mit der gehäkelten Decke.

Haben Sie an diesen Nachmittag beide immer sofort angefangen zu reden?
Es ging mir ja nicht darum, mit den Fragen gleich direkt Wunden offenzulegen. Denn wenn man mit jemandem, der die Schoa überlebt hat, spricht, legt man eben Wunden frei, kratzt an Narben, von denen auch Eva wollte, dass sie zubleiben – gerade, wenn man wie sie fünf Jahrzehnte geschwiegen hat. Manchmal haben wir uns auch gegenseitig gefragt, aber auch gelacht, geschwiegen und berührt.

Was wollte Eva Szepesi von Ihnen erfahren?
Warum sprichst du nicht auch mit deiner Familie? Und das wiederum hat bei mir Wunden offengelegt. Das Schweigen meiner Großmutter, als ich bei ihrem Auszug ins Altersheim, bei dem ich ihr damals half, das Mutterkreuz gefunden haben und sie fragte: »Was wart ihr für Menschen in dieser Zeit? Wart Ihr Nazis?« Für das Buch habe ich mich auf eine Reise begeben und versucht, Worte für eine Zeit zu finden, die auch etwas mit dem Heute zu tun hat. Ich glaube nämlich, dass das lange Schweigen meiner – und bestimmt vieler anderer – Großeltern auch etwas damit zu tun hat, dass die Schweigeteppiche vieler Familien so groß geworden sind Über die müssten heute eigentlich noch mehr Menschen stolpern. Ich zumindest bin immer wieder darüber gestolpert.

Warum ist es für viele so schwierig, in der eigenen Familie Fragen zur Vergangenheit zu stellen?
Bei mir waren es ja meine Großeltern, mit denen ich viele Wanderungen gemacht und Wattwürmer auf Wangerooge ausgegraben habe. Es sind die Großeltern, die ich einerseits als liebevoll und andererseits als kühl und distanziert erlebt habe. Das hat auch etwas mit dem Hinterfragen und Zweifeln zu tun, mit der eigenen Angst und der Frage »Wie wäre ich damals gewesen?«. Ich wollte verstehen, wie man schweigen und wegschauen konnte, als Mitmenschen, Nachbarn und Kollegen deportiert wurden. Wie kann man auf diesem Scherbenhaufen weitermachen? Diese Fragen habe ich meiner Familie, denen, die damals noch lebten, schon früher gestellt. Aber ich erhielt keine Antwort. Ich kassierte Ohrfeigen. Ich habe es jetzt noch einmal bei Tanten und Onkeln probiert.

Wie haben die reagiert?
Sie waren bereit, das, was sie wussten, zu erzählen. Ihre Nächte, ihre Ängste im Bunker sind nicht vergleichbar mit dem, was Eva Szepesi erzählt und erlitten hat. Sie haben weggeschaut, mitgemacht und sich – Hände reckend – einfach angepasst. Aber ich glaube, wenn danach viel mehr Groß- und Urgroßeltern von ihrem Irrweg erzählt hätten, dann gäbe es dieses große Schweigen nicht. Natürlich möchte niemand gern als Täter gesehen werden. Viele haben einfach so weitergemacht, als wäre nichts passiert. Wie das in diesem Land funktioniert, das Weitermachen nach Auschwitz, wollte ich verstehen.

Eva Szepesi hat viele Jahrzehnte geschwiegen. Warum?
Sie hat ihrem Mann und ihren Töchtern nichts erzählt – aus tiefer Scham, um vor den Töchtern nicht auch noch einmal als Opfer dastehen zu müssen. Ihr ist Unaussprechliches widerfahren: Sie hatte alles Urvertrauen verloren, musste mit ansehen, wie ihr Vater aus seinem Geschäft in ein Arbeitslager deportiert wurde. Sie wurde gedemütigt und verletzt. Als sie nach Auschwitz kam, war Eva elf Jahre alt, und der Verlust der Geborgenheit einer Familie hat sie ihr Leben lang geprägt.

Wie ist Eva Szepesi damit umgegangen?
Noch bis vor einiger Zeit hat sie geglaubt, dass ihre Mutter und ihr Bruder Tamás zurückkommen würden. Im vergangenen Jahr hat Eva Szepesi in Auschwitz die Namen ihrer Mutter und ihres Bruders schwarz auf weiß gesehen und konnte danach erst glauben, dass das Warten ein Ende haben muss. Das ist schwierig – auch für jemanden, der Mitte 80 ist. Ihre Enkel unterstützen sie sehr. Es war deren Wunsch, gemeinsam mit ihrer Großmutter diesen Ort zu besuchen. Auschwitz steht für den Endpunkt, für Verrohung und Gewalt. Aber es gibt einen Weg dahin. Und meine Großeltern waren ein Teil dieses Weges der Gesellschaft, die geschwiegen und weggeschaut hat. Diesen Weg wollte ich noch einmal offenlegen. Das ist schmerzhaft und tut weh. Ehrlich gesagt, hätte ich meine Großeltern auch lieber als Helden gesehen. Aber wenn sie Helden gewesen wären, hätten sie davon erzählt.

Gab es Themen während Ihrer Gespräche mit Eva Szepesi, die tabu waren?
Nein. Es gab Fragen, auf die sie nicht geantwortet hat. Es gab Erinnerungsinseln, bei denen es ihr schwerfiel, sie zu betreten.

Welche waren das?
Ich erinnere mich an einen eiskalten Tag in Frankfurt. Ich stand in meinen dicken Wintersachen, zwei Paar Wollsocken und Thermosohle vor ihrer Tür, wartete darauf, dass Eva öffnete. Es dauerte einen kleinen Moment, es war ziemlich kalt. Als ich dann ihren Flur betrat, fragte ich, ob es eigentlich Handschuhe in Auschwitz gab. Eine dumme Frage. Eva antwortete: »Es gab keine Handschuhe. Wie naiv bist du eigentlich? Niemand war an unserem Überleben interessiert.« So kamen wir über eine Alltagssituation, die für uns beide real war, auf ihre Vergangenheit. Bis heute, wenn sie mir beispielsweise einen Kaffee eingoss, sind ihre Gelenke geschwollen. Nachts muss sie ihre Finger geradebiegen, weil die Kälte damals in den Körper eines Mädchens hineingekrochen ist. Sie war elf und hatte doch, wie ich es beschreibe, »Hasenstreichel- und Puppenkämm-Finger«. Wir haben auch sehr offen über Hunger gesprochen, darüber, wie schnell der Mensch verroht und vergisst, ein Mensch zu sein. Das Tabu, eine Frage zu stellen, gab es nicht. Wir haben viel geschwiegen, viel geweint.

Und auch mal gelacht?
Ja, wir haben ungarischen Likör getrunken und uns Fotos ihrer Enkel und Urenkel angesehen.

Eva Szepesi ist heute Zeitzeugin und spricht mit Schülern. Wie geht sie damit um?
Sie spricht, damit keiner aus der jüngeren Generation sagen kann, er hätte es nicht gewusst. Sie spricht für die Toten, die nicht mehr sprechen können. Ihre Mutter, ihr Vater und ihr Bruder sind ihr Motor. Das ist ihre Motivation. Als ich sie fragte, was Schüler von ihr wissen wollen, sagte sie, dass es manchmal ganz kleine Dinge sind: »Was durftest du mitnehmen? Was hast du in deinen Stoffbeutel gepackt?« Es gab auch Reaktionen von Schülern, die sagten, der Vater hätte ja auch eine Nummer auf dem Arm, das könne doch nicht so schlimm sein. Diese Nummer allerdings entpuppte sich dann als Geburtsdatum der Tochter, das sich viele heute tätowieren lassen.

Laut einer Studie der Körber-Stiftung wissen nur 59 Prozent der über 14-jährigen Schüler, was Auschwitz ist. Wie bewerten Sie das?
Ich stelle fest, dass Krieg und Hass nichts Deutsches sind, aber Auschwitz ist eine deutsche Erfindung. Wenn man heute durch dieses Land geht, gibt es überall diese Wunden und Narben. Ich denke, es kann hier keine demokratische, keine offene und sichere Zukunft geben, wenn man nicht weiß, was hier passiert ist. Das gilt für die, die hier schon viele Jahre lang leben, aber auch für die, die erst kurze Zeit hier sind: Menschen, die als Flüchtlinge herkommen, aber auch Menschen, die aus New York oder Brüssel nach Deutschland kommen. Es ist eine Verpflichtung der Schulen und auch der Familie – da sind wir dann wieder beim Schweigen –, zu vermitteln, welche negativen Wurzeln wir auch in diesem Land haben. Und es gibt Wurzeln des Hasses in Deutschland. Sie zeigen sich gerade wieder sehr.

Wie wird sich das Gedenken ohne Zeitzeugen gestalten?
Es wird neue Formen von Erinnerungskultur geben müssen. In vielen Museen passiert dies bereits. Wir haben etliche engagierte Lehrer, es gibt viele unterschiedliche Projekte, und es gibt das Wort. Wenn man sich gerade in Berlin beispielsweise im Gorki-Theater umsieht und über Musik und Kultur sprechen kann, die frei von Vorurteilen ist, kann dies auch ein lebendiges Miteinander bewirken.

Wann treffen Sie sich wieder mit Eva Szepesi?
Wir waren gerade in der vergangenen Woche auf Lesereise, und sie wollte eine CD mit ungarischen Volksliedern mitnehmen, damit ich die mit ihr singen kann. Im Gegensatz zu mir singt sie sehr gern und sehr gut. Auf der nächsten längeren Autofahrt möchte sie die CD dann spielen. Ich freue mich auf den kommenden Samstagnachmittag, da kommt sie mal zu mir.

Mit der Autorin, Journalistin und Moderatorin sprach Katrin Richter.

Bärbel Schäfer: »Meine Nachmittage mit Eva: Über Leben nach Auschwitz«. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, 224 S., 19,99 €

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