Als Joseph Goebbels am 19. Juni 1943 Berlin für »judenrein« erklärte, war das – in diesem Fall zum Glück – eine seiner vielen Propagandalügen. Denn zu dem Zeitpunkt waren in der Hauptstadt bereits etwa 7000 Juden untergetaucht. Mehr als 1700 davon überlebten versteckt im Untergrund. Sie waren dabei auf die Hilfe von Freunden, aber auch Unbekannten angewiesen.
Vier dieser Überlebensgeschichten erzählt der Regisseur Claus Räfle in seinem Dokudrama Die Unsichtbaren – Wir wollen leben, das heute Abend um 20.15 Uhr in der ARD gesendet wird. Die Doku geht dabei einen ungewöhnlichen filmischen Weg. Während Eugen Friede, Ruth Gumpel, Hanni Lévy und Cioma Schönhaus in Interviews von ihrer Zeit im Untergrund berichten, werden ihre Erzählungen in filmischen Rückblenden reinszeniert.
Die Dokumentation geht einen ungewöhnlichen filmischen Weg.
authentisch Das Verfahren ist zunächst gewöhnungsbedürftig, denn gerade in diesem historischen Kontext befürchtet man in der Vermischung von Spiel- und Dokumentarfilm eine gewisse Pietätlosigkeit zum Sujet. Aber die Melange geht überraschend gut auf. Die Lebendigkeit, mit der die Zeitzeugen von ihrer Jugend in der Illegalität erzählen, scheint fast bruchlos in die – authentisch – inszenierten Bilder einzufließen.
Cioma Schönhaus ist ein alter Mann mit Schnurrbart, aber der Schalk in seinen Augen lässt noch die Verwegenheit erkennen, die er als Passfälscher im Untergrund an den Tag legte und der man nun in seinem schlaksigen Spielfilm-Wiedergänger Max Mauff begegnet. Hanni Lévy (Alice Dwyer) war gerade einmal 17 Jahre, als sie untertauchte.
Neben der Angst ist für sie die Einsamkeit das Schlimmste am illegalen Dasein. Sie färbt sich die Haare blond, um am Ku’damm nicht aufzufallen, übernachtet in wechselnden Quartieren und flüchtet sich nachmittags in beheizte Kinosäle. Eine Kassiererin erkennt ihre Lage und nimmt sie mit zu sich nach Hause, wo die beiden Frauen bis zum Kriegsende gemeinsam leben.
Überzeugend und eindringlich: Aaron Altaras als Eugen Friede.
Die zentrale Frage in der Illegalität lautet für alle: Wem kann ich trauen? Als Cioma Schönhaus einer Schulfreundin begegnet, kann er der Versuchung nicht widerstehen und lädt die schöne Frau zum Kaffee ein – ohne zu wissen, dass sie eine berüchtigte jüdische Spionin der Nazis ist, die schon Hunderte ans Messer geliefert hat. Aber Stella Goldschlag (Laila Maria Witt) verschont ihn aus einer Laune heraus und will seine Adresse nicht wissen.
Altaras Eugen Friede (überzeugend und eindringlich von Aaron Altaras verkörpert) ist Sohn eines christlichen Vaters und einer jüdischen Mutter. Die »Mischehe« schützt die Mutter, aber nicht den Sohn vor der Deportation, und so geben die Eltern ihr Kind zu seinem eigenen Schutz an Fremde. In der Höhle des Löwen überlebt Ruth Arndt (Ruby O. Fee), die als Kriegswitwe getarnt eine Stelle als Dienstmädchen bei einem hochrangigen Wehrmachtsoffizier antritt.
Neben der Angst ist für sie die Einsamkeit das Schlimmste am illegalen Dasein.
Was an den Erzählungen der vier Überlebenden besonders fasziniert, ist die Lebhaftigkeit ihrer Ausführungen. Denn die Jahre im Untergrund waren nicht allein eine Zeit in Angst und Schrecken, sondern auch die wilde Jugend, auf die mit funkelnden Augen zurückgeblickt wird. Im Spektrum der Schoa-Überlebenden erscheinen die vier fast schon als Privilegierte, weil sie eine zwischenmenschliche Hilfe erfahren haben, die Millionen anderen Juden verwehrt geblieben ist.