Kaum hat dieses Stück angefangen, ist man schon um eine Illusion ärmer. Ein monolithischer Block, halb Wachturm, halb unfertiges Haus, ruht auf der Drehbühne und nimmt einem jede Sicht auf Weite, Tiefe, Hoffnung. Kaltweißes Licht erhellt die Szenerie vor dem Betonskelett, davor zwei Menschen mit angespannten Körpern.
Adib, ein Palästinenser, fragt verängstigt die jüdische Verhörspezialistin Libby: »Wer sind Sie?« Die einfachen Fragen sind bekanntlich die schwierigsten. Für die 24-Jährige wird die Frage zur Initiation, sie beendet das Aushorchen des vermeintlichen Terroristen. Stattdessen verhört Libby nun ihre eigenen Vorfahren, mithilfe der Tagebücher ihrer Urgroßmutter begibt sie sich auf eine Zeitreise zurück zu den Anfängen Israels, zu den Ursprüngen ihrer Identität.
Der israelische Dramatiker Joshua Sobol, 1939 in Palästina unter britischem Mandat geboren, wurde in den 80er-Jahren mit dem Stück Ghetto berühmt. Sobols dramatisches Werk findet sich seit Jahrzehnten auf den Spielplänen deutscher Stadttheater. 2017 erschien sein Roman Der große Wind der Zeit, eine spannende Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt.
Der Regisseur Stephan Kimmig und seine Dramaturgin Gwendolyne Melchinger schälen bei ihrer Strichfassung für die Stuttgarter Uraufführung aus dem komplexen Beziehungsgeflecht einen plausiblen Generationenkonflikt heraus, ohne Aktualisierungen, das Massaker der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober 2023 bleibt außen vor. Die Jungen, Adib und Libby, blicken in ihrer Naivität auf ein monströses historisches Erbe ihrer Ahnen.
Doch sind sie Teil dieser brutalen Welt. So setzt Camille Dombrowskys Libby als schön dauergenervte, sich ständig durch die blonde Mähne fahrende Vertreterin der Generation Z jene Tradition tougher Frauen fort, die an einem maskulinen Ungenügen leiden und sich wutsprühend gegen die Apathie wehren. Da wäre etwa Libbys Vater, eigentlich ein rechter Politzyniker, der bei Kimmig an Testosteronmangel leidet. Gábor Biedermann spielt ihn zum Amüsement der Zuschauer mit Verve als Kleinbürger-Schlaffi mit panischem Blick.
Anders als sein konturloses Söhnchen ist Libbys Opa Dave ein Hobbyrocker mit Kanten – und einer Harley Davidson, auf der er in die Wüste knattert. Sebastian Röhrle verkörpert Dave als Millionär mit arroganter 68er-Attitüde, dem die Penunzen schnuppe sind. Dafür sehnt er sich nach der Bikerjackenfreiheit linksliberaler Edelpensionäre samt Erlösung von der unerfüllten Liebe zu Adibs Großmutter Jamila.
Joshua Sobol wurde in den 80er-Jahren mit dem Stück »Ghetto« berühmt
Dass Dave ein beziehungsunfähiger Solitär geblieben ist, verdankt er auch seiner Mutter. Eva stammt aus großbürgerlichem Haus, als sie nach dem Ersten Weltkrieg aus Wien nach Palästina kommt, gegen den Willen ihrer wohlhabenden Eltern, assimilierter Juden, die den Zionismus verlachen. Sie wird Mitglied eines Kibbuz, praktiziert Polyamorie, schläft mit einem Araber, der später den Aufstand gegen die Juden anführt. Ihren Sohn Dave hat sie mit einem jemenitischen Kibbuznik.
Eva lässt Dave im Stich, um Ausdruckstanz in der Weimarer Republik zu studieren, wo sie mit einem Nazi und Bertolt Brecht ins Bett geht. Später wird sie Scharfschützin. Wow, was für eine Superwoman, denkt man, die von Paula Skorupa dann wenig überraschend genauso interpretiert wird: als über allem schwebende Jeanne d’Arc des Feminismus, unnahbar, auch überheblich.
Der Regie gelingt es wunderbar, die Zeitebenen zu verschränken, mit historisierenden Kostümen (Anja Rabes) und live intonierter Begleitmusik (Max Braun) die komplexe Geschichte zu erzählen. Doch Stephan Kimmig verlässt sich zu sehr auf die Vorlage, vergisst darüber das Kreieren von Szenen – ein Manko vieler Romanadaptionen. Die Figuren halten sich am Text fest wie Kinder an der Zuckerstange.
Wenn sie sich aber einander zuwenden und körperlos streiten, aus sicherer Distanz mit Worten verletzen, spürt man viel von der knisternden Energie im Drama. Was Libby und Adib am Ende ihrer Introspektion in die Seelenpeingefilde des Nahost-Konflikts finden, das ist nicht die Liebe, sondern unheilbares Leid. Mit vibrierender Virtuosität und intelligent-kritischer Bosheit ringt Felix Strobels Adib mit den Dämonen seines Volkes. Großes Lob.
Das gilt leider nicht für die gefühlig-kitschige Geste zum Ende des zweieinhalbstündigen Abends, als die Protagonisten ihre Hände zur Versöhnung dem Publikum entgegenstrecken. Vergebung bleibt eine Illusion.
Weitere Aufführungen am 8., 14., 18., 25. und 27. März, am 18. April sowie am 30. Juni www.schauspiel-stuttgart.de