Frankfurter Buchmesse

Verschwundene Tochter, verliebter Spion

Gastland auf der Buchmesse: Brasilien – heute leben rund 100.000 Juden dort. Foto: Thinkstock

Es sind Bücher, die Brücken bauen, Brücken zwischen der Alten und der Neuen Welt: Zur Frankfurter Buchmesse präsentiert das diesjährige Gastland Brasilien Romane, die sich mit jüdischem Leben in dem südamerikanischen Land befassen.

Rund 100.000 Juden leben heute in Brasilien: Die ersten jüdischen Einwanderer kamen schon vor über 500 Jahren, als sie aus Portugal und Spanien vertrieben wurden. Andere flohen in späteren Jahrhunderten vor den Pogromen in Osteuropa und vor den Nazigräueln. Auch KZ-Überlebende fanden eine neue Heimat in Rio de Janeiro oder São Paulo.

Der Autor Bernardo Kucinski begibt sich in doppelter Hinsicht auf Spurensuche: In K. oder die verschwundene Tochter versucht ein Brasilianer polnisch-jüdischer Herkunft, seine unter der Militärdiktatur (1964–1985) verschwundene Tochter zu finden. In dem atmosphärisch ungemein dichten Roman, dem wahre Geschehnisse zugrunde liegen, hält der 1937 geborene Schriftsteller der jüdischen Gemeinde und der brasilianischen Gesellschaft einen Spiegel vor.

Untergrund Die junge Frau in dem Roman führte in den 70er Jahren ein Doppelleben – als Universitätsdozentin für Chemie und Mitglied der Stadtguerilla –, das der Vater mühsam dechiffrieren muss. Dabei helfen ihm Erfahrungen, die er als zionistischer Untergrundkämpfer in Polen machen musste. Er kann nicht umhin, die staatliche Repression in Brasilien mit den Verbrechen des NS-Regimes zu vergleichen, das für die Auslöschung der gesamten Familie seiner Frau verantwortlich war.

Während die Nazis über ihre Opfer noch genauestens Buch führten, vernichteten die brasilianischen Militärs ihre Gegner einfach und spielten anschließend ein zynisches Spiel mit den Angehörigen. Die Generäle verweigerten Auskünfte, leugneten die Verschleppung und drohten allen, die um Aufklärung baten. Bis heute liegen die Schicksale vieler Opfer im Dunkeln.

Leise und ernst nähert sich auch der 1973 geborene Michel Laub den menschlichen Höhen und Tiefen – in der Konfrontation mit der Vergangenheit. Sein poetischer Roman Tagebuch eines Sturzes handelt von einem namenlosen Ich-Erzähler, der von Alkohol, Depressionen und Bindungsängsten gequält wird. Er setzt seine Jugenderinnerungen in Bezug zu den Aufzeichnungen des verstorbenen Großvaters, der nie über seine Zeit in Auschwitz gesprochen hatte.

Doch der an Alzheimer erkrankte Vater dozierte im Gegensatz dazu sogar am Esstisch über die Schoa, bevor seine Erinnerungen verblassten. Der Erzähler wehrt sich gegen die Fixierung auf jüdische Themen, verstrickt sich aber selbst in Schuld und Leid: Auf einer christlichen Schule mit Hitler-Karikaturen provoziert, rächt er sich perfide.

Identität Um Fragen von Identität und Anpassung kreisen die Werke des 2011 gestorbenen jüdischen Autors Moacyr Scliar. Sein berühmter Roman Der Zentaur im Garten aus den 70er-Jahren wurde neu aufgelegt.

Mit Elementen des »magischen Realismus«, in dem Traum und Wirklichkeit verschmelzen, erzählte Scliar die Geschichte eines Mannes, der halb als Mensch und halb als Pferd auf die Welt kam, ein Außenseiter. Eine wunderbare Passage schildert einen Zirkusauftritt: Die Hauptfigur gibt sich dort als Mensch aus, der nur in der Manege einen Zentauren spielt. Doch diese Strategie geht nicht auf.

Auch Ronaldo Wrobel (Jahrgang 1968) geht erzählerisch in die Vollen. Sein historischer Roman Hannahs Briefe liefert ein Sittengemälde aus dem Rio der 30er-Jahre, als Brasilien vom autokratischen Präsidenten Getúlio Vargas regiert wurde. Um seine Macht zu stärken, lenkt Vargas Kritik und Unmut auf die jüdischen Einwanderer, die er ausspionieren und überwachen lässt.

Allerdings stellt die jiddische Sprache die Geheimpolizei vor Probleme, weshalb sie den aus Polen stammenden jüdischen Schuhmacher Max Kutner als Übersetzer zwangsverpflichtet. Kutner kollaboriert widerwillig, wird dann aber von dem Briefwechsel zwischen den Schwestern Hannah und Guita fasziniert. Er verliebt sich in Hannahs Brief-Ich und setzt alles daran, sie im Gewusel der Großstadt zu finden. In seinem unterhaltsamen Panorama greift der Autor auch das lange tabuisierte Thema der jüdischen Prostituierten in jener Zeit auf.

www.buchmesse.de

27. Januar

Der unbekannte Held von Auschwitz

Der »Berufsverbrecher« Otto Küsel rettete Hunderten das Leben. In Polen ist er ein Held, in Deutschland fast unbekannt. Das will Sebastian Christ mit einem Buch ändern, für das er 20 Jahre lang recherchiert hat

 24.01.2025

Kino

Hoffnung auf mehr »Harry und Sally«

Möglicherweise kehren Meg Ryan und Billy Crystal als Harry und Sally zurück. Zumindest sorgt ein Social-Media-Post derzeit für Glücksgefühle

von Sophie Albers Ben Chamo  24.01.2025

Medien

Michel Friedman ist neuer Herausgeber des »Aufbau«

Die Zeitschrift »Aufbau« erfindet sich mal wieder neu. Diesmal soll Michel Friedman das 90 Jahre alte Blatt modernisieren. Der Journalist und Autor hat viel vor

von Sophie Albers Ben Chamo  23.01.2025

Oscars

»Der Brutalist« und »A Complete Unknown« nominiert

Adrien Brody und Timothée Chalamet sind auch als »Beste Hauptdarsteller« nominiert

 23.01.2025

Kulturkolumne

Sprachnachrichten als Zeitzeugnisse

WhatsApps auf Jiddisch von Regina Steinitz aus Israel

von Maria Ossowski  23.01.2025

Kino

»The Brutalist« - Packendes Filmepos über die Gegenwart der Vergangenheit

In 70mm gedrehtes herausragendes Filmepos über einen dem Holocaust entronnenen Architekten, der in den USA mit einem gigantischen Bauwerk seinen Traumata zu entkommen hofft

von Rüdiger Suchsland  23.01.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  23.01.2025

Lebensmelodien

Musik ist die beste Rache

Am 27. Januar erinnert die UN-Vollversammlung mit Werken verfolgter jüdischer Komponisten an die Schoa – das Projekt entstand in Berlin-Schöneberg

von Ayala Goldmann  23.01.2025

Mel Gibson

»Make Hollywood Great Again«

US-Präsident Donald Trump hat den Regisseur und Schauspieler zu seinem »Sonderbotschafter« ernannt – zusammen mit Sylvester Stallone und Ron Voigt

von Sophie Albers Ben Chamo  23.01.2025