Am 27. März 1933 notierte Joseph Goebbels in sein Tagebuch: »Ich diktiere einen scharfen Aufsatz gegen die Greuelhetze der Juden. Schon seine Ankündigung lässt die ganze Mischpoke zusammenknicken. Man muss solche Methoden anwenden. Großmut imponiert den Juden nicht.« Einen Tag später heißt es triumphierend bei ihm: »Ich telefoniere mit dem Führer. Der Boykottaufruf wird heute veröffentlicht. Panik unter den Juden!« Und weitere zwei Tage später, am 30. März, ließ der Propagandaminister verlauten: »Der Boykott ist in der Organisation fertig. Wir brauchen jetzt nur auf den Knopf zu drücken, dann läuft er an.« Nachdem der Knopf gedrückt worden war, konnte Goebbels befriedigt verkünden, dass das deutsche »Publikum« sich mit dem Boykott »überall solidarisch erklärt« habe. Doch so ganz stimmte das nicht, es gab zum Leidwesen der Nazi-Granden in der Bevölkerung auch Ablehnung. Dennoch: Ein Trennungsstrich war gezogen.
Hannah Ahlheim hat über die Boykottpolitik des NS-Regimes eine in ihrer stilistischen Leichtfüßigkeit bestechende Studie vorgelegt. Indem sie das bislang unbeachtete und verloren geglaubte Quellenmaterial des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« heranzog, das jahrzehntelang unzugänglich im Moskauer Sonderarchiv verstaubte, hat sie einen neuen Akzent in der deutsch-jüdischen Historiografie gesetzt – ein Perspektivwechsel, der die Sicht auf die jüdischen Opfer freigibt.
Die Aufforderung »Kauft nicht bei Juden!«, die am 1. April 1933 reichsweit auf tausenden Litfaßsäulen prangte, war einer der wirkungsmächtigsten Appelle, mit der das NS-Regime seinen Antisemitismus demonstrierte. Der Publizist Robert Weltsch hatte diesen Tag als Aufkündigung und Ende der jüdischen Emanzipation und des Assimilationsprozesses gewertet und dies mit der symbolischen Aufforderung an die deutschen Juden verknüpft: »Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!«
Der Boykott hatte auch das Ziel, die Bevölkerung in eine antisemitische Grundstimmung zu hetzen, wobei die Nazis auf tradierte Stereotypen zurückgriffen. Boykottmaßnahmen gegen »jüdische« Warenhäuser waren keine Erfindung der Nazis. Sie waren lange vor 1933 fester Bestandteil im Repertoire antisemitischer Agitation. Ein Beispiel: Nachdem im Februar 1924 die völkisch-konservative Deutsch-Nationale Volkspartei eine Entschließung verabschiedet hatte, nicht bei »fremdrassigen Elementen« zu kaufen, stellte die C.V.-Zeitung fest, dass »zum ersten Male« im demokratischen Deutschland die »verrostete Waffe des wirtschaftlichen Boykotts« gegen jüdische Deutsche angewendet würde.
Der Boykott vom 1. April 1933 war lediglich ein Vorspiel für nachfolgende antijüdische Maßnahmen. Der stille, sich ohne offene Gewalt und Propaganda vollziehende, dafür aber umso demütigendere Boykott mit seiner nachhaltigen psychischen Wirkung ging unvermindert weiter. Die neutralen, unentschlossenen Kunden wurden in der Inszenierung des Boykotts selbst zum Akteur: Allein dadurch, dass sie etwas nicht taten, dass sie nicht »beim Juden« kauften, indem sie zu- oder wegschauten, erfüllten sie die ihnen zugedachte Rolle.
Nachdenklich machen muss die Tatsache, dass die grobschlächtigen, radau-antisemitischen Ausfälle, die mit den Boykottmaßnahmen einhergingen, keine hinreichende Abschreckung auf die Mehrheit der Deutschen entfaltete, sondern eher heimliche bis offene Zustimmung erkennen ließ. Ahlheim zeigt anhand kleiner Szenen aus dem Alltag deutlich, wie die Akteure aufeinandertrafen und auf welche Weise und in welchen Situationen sich bei den Beteiligten unterschiedliche Motive mit antisemitischen Ressentiments verbanden.
Hannah Ahlheim: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!« Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Wallstein, Göttingen 2011, 454 S., 39,90 €