Der Name des Albums ist Programm. The Girl With No Skin subsumiert exakt, was Ella Ronens Musik ausmacht: jene Verletzlichkeit, der sich niemand im Leben entziehen kann, zum Vorschein zu bringen. Ella Ronen schält diese Vulnerabilität in ihren zehn neuen Songs, die Anfang dieses Monats beim Schweizer Musiklabel Irascible Music herausgekommen sind, aus ihrem Innersten heraus, ohne einen Hauch von Weinerlichkeit.
Roher ist dieses vierte Studioalbum als seine Vorgänger, selbstverständlich, erwachsener. Die leicht getönte Klangfarbe in ihrer Stimme, die Ronens Musik so erkennbar macht, behält sie bei, sie zieht sich durch das Album. Der Sound aber ist diesmal gehaltvoller. Manchmal rockig, schon fast wütend, fast immer direkt und klar und trotzdem hin und wieder auch sanft.
Die Songwriterin entlarvt einen Dichter, der übergriffig wurde
Entsprechend auch der Auftakt des Albums mit dem Song »Truth«, einer Singleauskopplung. Ein auf den ersten Blick feinfühlig arrangiertes Folkpop-Stück mit einem Touch Kalifornische-Wüste-Feeling, doch ganz so leichtfüßig kommt der Song dann doch nicht daher. Er hat etwas Gespenstisches und Dunkles, was sich rasch im Liedtext entpuppt: Die Songwriterin entlarvt darin einen Dichter, der übergriffig wurde. Dahinter steckt die Geschichte der 16-jährigen Ella Ronen, die in einer Bar in Tel Aviv von einem bekannten Dichter und Journalisten angesprochen wurde. Er lud sie in seine Wohnung ein, wo er ihr zu nahe kam. Die heranwachsende Frau entkam ihm.
Vor etwas mehr als einem Jahr fasste Ronen Mut, als sie sich an der Veröffentlichung eines großen Exposés, das den Dichter als Täter entlarvten sollte, beteiligte. »Truth« wurde in den angespannten Tagen vor der Veröffentlichung jenes Textes geschrieben. Ronen zeichnet darin ein eindrucksvolles Bild des alten Mannes, der herumsitzt, Tee trinkt, ab und zu ein paar Wörter notiert, nicht wissend, dass er bald enttarnt wird. »You don’t hear the glasses shake, but they do – because truth is on its way. I almost feel bad for you, now that truth is on its way.«
»Truth« wurde ebenso wie die anderen Songs in New York von Sam Cohen produziert, der schon mit Kevin Morby und Alexandra Savior gearbeitet hatte. Mit Sam Cohen verbindet Ella Ronen eine intensive Zusammenarbeit.
Die Wahlschweizerin hat persisch-ungarische Wurzeln
Wie sie jüngst in einem Radiointerview erzählte, hatte die Wahlschweizerin mit persisch-ungarischen Wurzeln erst zwei neue Songs geschrieben, als sie den Produzenten kontaktierte. Sie wollte »diesen Song schreiben, der davon handelt, wie es in einer Beziehung manchmal unmöglich ist, den anderen richtig zu sehen, obwohl man sich anschaut«. Eines Nachts wachte sie auf, »dachte über Adam und Eva nach, wie sie sich gegenüberstehen und dennoch unfähig sind, einander zu lesen. Mir wurde klar, dass ich nur die eine Seite dieses Beziehungsgefüges reflektieren kann. Das war der Moment, als ich Sam anfragte, ob wir zusammenarbeiten könnten«, erzählt Ronen dazu.
Herausgekommen ist dabei »I just want to see you«, ein Duett von Cohen und Ronen. Die 37-jährige Sängerin und Songwriterin, die seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz lebt, erklärt ihrem Publikum den Zustand einer Beziehung, die in einer Sackgasse landet, wenn Erwartungen, Ängste, manchmal auch Klischees vorhanden sind und der echte Mensch nicht mehr gesehen wird.
Sozialisierungen durch die Gesellschaft sind ebenso Thema in Ronens Songtexten. Sie macht persönliche Erfahrungen melodiös nahbar. Die Künstlerin, die in Dichtkunst und englischer Literaturwissenschaft promovierte, schafft es meisterhaft, Worte für innere wie äußere Zustände zu finden. So fasst sie auch jene Phase im Leben, die im Alltag oft mit »Midlife« definiert wird, in ihrem wohl poppigsten Stück auf dem Album zusammen.
Seilkünstler Philippe Petit inspirierte Ronen zu »Tightrope«. Man befindet sich in der Mitte, will gleichzeitig zurück und vorwärts, man hat schon vieles erreicht, doch manchmal möchte man nur das kleine Kind von früher sein. Der Weg, der noch vor einem liegt, ist aber noch lang, die Herausforderungen warten. Ella Ronen ist dieser Balanceakt mit ihrem neuen Album gelungen.