Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse (…) benachteiligt oder bevorzugt werden.» Beate Rudolf stört dieser Satz im Grundgesetz, weil er das Wort «Rasse» enthält. Rudolf ist Direktorin des 2001 auf Empfehlung des Bundestages gegründeten Deutschen Instituts für Menschenrechte. Sie will «Rasse» aus Artikel 3 der Verfassung streichen und durch das Verbot «rassistischer» Benachteiligung oder Bevorzugung ersetzen. Ihre Begründung: Jede Theorie, die auf die Existenz unterschiedlicher Rassen abziele, sei selbst rassistisch. Auch das EU-Parlament hat sich gegen das Wort Rasse in Verfassungstexten ausgesprochen; Finnland, Schweden und Österreich entfernten es bereits aus ihrem nationalen Recht. «Ein solcher Schritt ist in Deutschland längst überfällig», sagt Rudolf. Fachwissenschaftler hat sie dabei auf ihrer Seite. Die deutschen Humanbiologen und Anthropologen Carsten Niemitz, Kerstin Kreutz und Hubert Walter legten schon 2006 im Anthropologischen Anzeiger einen Grundsatzbeschluss «Wider den Rassenbegriff in Anwendung auf den Menschen» vor: «Die heutige Anthropologie geht von einem gemeinsamen Ursprung des modernen Menschen fern der politisch, soziokulturell wie religiös diskriminierenden Rassenlehre früherer Zeiten mit ihren menschenverachtenden Dogmen aus. (…) Der Begriff der Rasse hat eine wechselvolle und zum Teil schlimme Geschichte.»
wertfrei Ursprünglich allerdings war das Wort «Rasse» wertfrei. Es ist arabischen Ursprungs und geht auf ra’s (Kopf, Oberhaupt) zurück – das hebräische Schwesterwort ist rosch, wie in Rosch Haschana. Aus ra’s wurde im 13. Jahrhundert Spanisch raza, Portugiesisch raca, Italienisch razza, Französisch und später auch Englisch race, die semantisch das Feld von «Adel» und «Qualität» abdeckten. In der spanischen Reconquista wird raza erstmals auf Juden bezogen, denen man nach den Zwangskonversionen von 1492 vorwarf, heimlich weiter zu «judaisieren». Im 16. und 17. Jahrhundert gelangte das Wort mit der allgemeinen Bedeutung Art, Gattung, Geschlecht, Stamm, meist in der französischen Form, nach Deutschland. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts hieß es in den satirischen Eipeldauer-Briefen: «Der Fisch soll von derselbigen Razza sein, die den Jonas geschluckt hat.» Im Englischen lebt dieser Wortgebrauch bis heute fort. Zwar ist der Begriff «race» in vielen Kontexten (etwa bei kolonialistischen Bezügen) negativ konnotiert, andererseits wird er ohne Vorbehalt synonym für Sippe, Gruppe, Kaste und Kategorie verwendet. Man spricht von «a new race of entrepreneurs» (eine neue Unternehmer-Generation) oder «a new race of robots» (eine neue Roboterart).
Im Deutschen vollzog sich der Übergang von diesem wertfreien zum heute vorherrschenden ethno-anthropologischen Sinn – nachdem Rasse im 18. Jahrhundert, unter anderem durch Carl von Linné, zum Terminus für botanische oder zoologische Klassifikationen wurde – durchgängig erst Mitte des 19. Jahrhunderts, obwohl schon Kant 1775 Von den verschiedenen Racen der Menschen schrieb. Sein Zeitgenosse Christoph Meiners (1747-1810), Professor der Weltweisheit in Göttingen, propagierte ein Rangsystem, in dem er Juden über Orang-Utans, Negern, Finnen und Mongolen einstufte, aber unterhalb von Weißen und Christen, weshalb ihnen weniger Rechte als diesen zustünden: «Jede Raçe hat ihre eigenen Gesetze.»
ns-ideologie Zur Staatsdoktrin in Deutschland wurde diese Gedankenwelt im Nationalsozialismus. Die Rassenideologie prägte nicht nur Politik und Recht, sie floss in alle Lebensbereiche ein, so wie Hitler es in Mein Kampf gefordert hatte: «Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muss ihre Krönung darin finden, dass sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbrennt.» Der Mythos «Rasse» schuf eine Inflation von Neologismen. Karl-Heinz Brackmann und Renate Birkenhauer nennen in ihrer Dokumentation zum «NS-Deutsch» (1988) unter anderem die Adjektive rasseecht, rasseeigen, rassefremd, rasse(n)gebunden, rassestark neben Nominalkomposita wie Rassegenossen, Rassemensch, Rassenangst, Rassenbrei, Rasseneinschlag und so weiter. Ein Anglist wie Alex Niederstenbruch schrieb 1941 über Nordisch-westische Züge in Shakespeares Sprache, E. Dieterich postulierte gar 1937 für den Sprachunterricht: «Die Lehre vom Konjunktiv ist auf rassischer Grundlage aufzubauen.»
Fortdauer So absurd das heute anmutet: Den Rasseideologen war damit blutiger Ernst – im Wortsinn. Der Begriff bereitete die Schoa vor und begleitete sie. Um so bestürzender, dass nach 1945 eine linguistische Entnazifizierung in Teilen der Umgangssprache ebenso wenig stattfand wie in juristischer Terminologie. Die Nazifiktion einer «jüdischen Rasse» lebt bis heute fort: 2003 hieß es in einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts über jüdische NS-Opfer, sie seien den im Dritten Reich «rassisch Verfolgten» zuzurechnen – wobei die distanzierenden Anführungszeichen nicht im Text enthalten sind. Kein Zweifel: Die von der SPD und den Grünen unterstützte Initiative, den Begriff Rasse aus dem Grundgesetz zu streichen ist vernünftig. Auch in der Alltagssprache sollte man ihn vorsichtig verwenden – ohne dabei dogmatisch zu sein. Auf manchen Gebrauch des Wortes wollen wir nicht verzichten. So wie in Thomas Manns Zauberberg, wo der Leiter des Sanatoriums, Hofrat Behrens, Hans Castorp eine Zigarre anbietet: «›Die hat Rasse‹, sagte der Hofrat, › … brennt wie Schnaps, und namentlich gegen das Ende hat sie was Fulminantes.‹»
Von Christoph Gutknecht ist das Buch «Lauter böhmische Dörfer. Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen» im C. H. Beck Verlag, München, erschienen.