Als Sanela und Nils Liebe Kinder waren, mochten sie sich sehr. Sanela kam eines Tages, 1992, in seine Klasse, seine Lehrerin bat ihn, sich um das neue Mädchen zu kümmern. Sie sei aus Jugoslawien, habe keine Eltern mehr. Sanela lernt rasch, sie möchte mit ihrer neuen Umwelt vertraut werden: »Sie saugte die Sprache auf. Sie lauschte ihr wie später der Musik. Den Klang der Worte nahm sie mit dem ganzen Körper auf.«
Die Lehrerin möchte in pädagogischer Absicht mehr über den Jugoslawienkrieg erfahren, Sanela soll ihrer Klasse über den Krieg erzählen. Nils Liebe spürt ihre Überforderung. »In seinem Kopf dreht sich alles. Scham. Machtlosigkeit. Begreifen.« Er verspürt eine Faszination für dieses Mädchen, aber auch eine innere Unsicherheit. »Das Mädchen war ihm fremd auf eine verstörend vertraute Weise. Es sprach nicht. Es lächelte nicht.«
flüchtlingsströme Lena Gorelik erzählt in Null bis unendlich eine schwierige Geschichte, die doch eigentlich eine Liebesgeschichte zu werden versprach. Zugleich ist es, angesichts der wachsenden Flüchtlingsströme, eine sehr aktuelle Thematik, die ohne jegliche Idealisierung entworfen wird. Sanela wird von schmerzhaften Erinnerungen an Abschiede überrollt, die sie vollständig überfordern. Insbesondere die Erinnerung an ihren Vater, er starb im Krieg, sowie an ihre an Krebs verstorbene Mutter vermag sie nicht zu ertragen: »Sanela kniff für ein paar Sekunden die Augen zusammen und schaltete die Erinnerung aus. Sie übte. Erinnerungen, Gedanken in abschließbare Schubladen sperren, Menschen nicht brauchen.«
Nils Liebe ist in einigen Bereichen hochbegabt, ein Zahlenkünstler. Und doch ist er emotional bedürftig. Als die beiden 14 Jahre alt sind, brechen sie zu einer abenteuerlichen Reise nach Jugoslawien auf, um das Grab ihres Vaters zu finden. Eine zutiefst verstörende Reise. Erholt hat sich Sanela davon wohl nie. »›Wenn man alle sterben sieht, dann will man auch sterben‹, sagt Sanela.«
wiedersehen Kurz darauf entschwindet sie. »Der Platz neben ihm in der Schule blieb leer.« Zur Liebe hat es nicht gereicht. Für Nils Liebe bleibt ein Loch, ein tiefes inneres Grübeln und Ersehnen. Sie hören nichts mehr voneinander, 15 Jahre lang. Nach dem Abitur geht Nils Liebe nach Berlin zum Studium. Dann ein überraschendes Wiedersehen. Zuerst erhält er einen Brief von Sanela. Diesen bewahrt er in einem Tresor auf, so bedeutsam ist er für ihn.
Zugleich ist dieses Wiedertreffen jedoch der Beginn eines beide überfordernden Dramas, in welches auch Sanelas kleiner Sohn Niels-Tito, den sie inzwischen hat, mit hineingezogen wird. Ihre Beziehung driftet immer mehr in Missverständnisse, in eine Kommunikationslosigkeit hinein. Sanela, das Waisen- und Flüchtlingskind, entwickelt eine beachtliche Fähigkeit zur Selbstzerstörung, gegen die Nils Liebe nicht ankommt. Kein leichter Stoff.
Lena Gorelik: »Null bis unendlich«. Roman. Rowohlt, Berlin 2015, 304 S., 19,95 €