Klassik

Verdi in Theresienstadt

Defiant Requiem im St.-Veits-Dom in Prag am 2. Juni 2013 Foto: Defiant Requiem Foundation, Josef Rabara

Prag, New York, Baltimore, Jerusalem, Washington, Budapest, nicht zuletzt Theresienstadt – die Liste der Aufführungsorte des dem tschechischen Dirigenten und Pianisten Raphael Schächter gewidmeten Konzert-Dramas Defiant Requiem ist lang. Schächter hatte vor rund 70 Jahren mit Hunderten von Häftlingen im Ghetto Theresienstadt Verdis Messa da Requiem aufgeführt.

Daran erinnert der amerikanische Dirigent Murry Sidlin mit Defiant Requiem, das 2002 uraufgeführt wurde. Nun präsentiert das Jüdische Museum Berlin erstmals in Deutschland die Produktion des amerikanischen Dirigenten, Komponisten und Arrangeurs am Dienstag, den 4. März, um 20 Uhr im Konzerthaus Berlin.

Selbstbehauptung Für die Insassen des Ghettos war Musik ein Element der Selbstbehauptung, des Überlebenskampfes in einem Lageralltag, der geprägt war von Erniedrigung, Elend, Krankheit und Tod. 35.000 Menschen wurden in Theresienstadt ermordet, über 88.000 von dort aus in 63 Transporten in die Vernichtungslager deportiert, zunächst nach Riga, ab Oktober 1942 vor allem nach Auschwitz-Birkenau. Von den 88.000 Deportierten überlebten nur etwa 3100.

Bei den rund 15.000 Kindern, die das Ghetto Theresienstadt durchliefen und in die Transporte kamen, waren es lediglich etwa 100. Die Häftlinge hatten zuvor in unerträglicher Enge die Kasernen und andere Gebäude der Stadt bewohnt. Es herrschten katastrophale hygienische Verhältnisse. Der Chor des Ghettos, der auch Smetanas Die verkaufte Braut und Opern von Mozart einstudierte, betrachtete seine musikalische Arbeit als eine Art des inneren Widerstands.

Insgesamt gab es 16 Aufführungen von Verdis Requiem zwischen Oktober 1943 und Juni 1944, bevor Chor und Dirigent in die Vernichtungslager deportiert und fast alle ermordet wurden. Rafael Schächter starb einer Quelle zufolge 1945 bei einem »Todesmarsch« nach der Evakuierung von Auschwitz. Anderen Quellen zufolge wurde er am 18. Oktober 1944 in einer der Gaskammern des Vernichtungslagers ermordet.

Filmaufnahmen Murry Sidlin verknüpft in seiner Version Verdis Totenmesse mit Filmaufnahmen und Zeitzeugenberichten von damaligen Chormitgliedern, die die Schauspieler Iris Berben und Ulrich Matthes vortragen werden. Sidlin, ehemals Dekan der School of Music an der Catholic University of America in Washington D.C. und Urgestein der Dirigentenausbildung beim Aspen Music Festival in den USA, hatte von Schächters Theresienstädter Verdi-Aufführung zufällig in einem Buch über Musik im Holocaust gelesen.

Er grub sich immer tiefer in die Historie und forschte weiter. Zunächst fand er keine überlebenden Mitglieder des Chores aus Theresienstadt mehr. Durch Öffentlichkeitsarbeit im Internet stieß Sidlin dann auf Edgar Krasa, einen Theresienstadt-Überlebenden, der inzwischen in der Nähe von Boston lebte. Krasa, einst »Stubengenosse« von Schächter und Chormitglied, öffnete Sidlin die Tür zu anderen Überlebenden des Chores.

2008 gründete Sidlin seine Stiftung »Defiant Requiem«, deren pädagogisches Konzept auf vier Säulen steht: das jetzt in Berlin zu erlebende Konzert-Drama, der Dokumentarfilm Defiant Requiem, das wissenschaftlich ausgerichtete Rafael-Schächter-Institut für Kunst und Geisteswissenschaften in Theresienstadt sowie die immer wichtiger werdende Anti-Holocaust-Erziehung junger Menschen, für die die Stiftung spezielle Projekte an Schulen anbietet.

Rund 70 Jahre nach dem letzten Konzert in Theresienstadt wird jetzt auch in Berlin an all die Künstler erinnert, die unter widrigsten Bedingungen ihren Leidensgenossen im Ghetto musikalisch Mut machten.

»Defiant Requiem«. Konzerthaus Berlin, 4. März, 20 Uhr

www.konzerthaus.de
www.defiantrequiem.org

Attentat

Fakt und Fiktion in schlüssiger Symbiose

Christof Weigolds Kriminalroman über den ungeklärten Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in München im Jahr 1970

von Helen Richter  27.10.2024

Netflix-Serie

Balsam für Dating-Geplagte? Serienhit mit verliebtem Rabbiner

»Nobody Wants This« sorgt derzeit für besonderen Gesprächsstoff

von Gregor Tholl  23.10.2024

Herta Müller

»Das Wort ›Märtyrer‹ verachtet das Leben schlechthin«

Die Literaturnobelpreisträgerin wurde mit dem Arik-Brauer-Publizistikpreis des Thinktanks »Mena-Watch« ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

von Herta Müller  23.10.2024

Essay

Die gestohlene Zeit

Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch die Möglichkeit, die Zukunft zu planen, schreibt der Autor Benjamin Balint aus Jerusalem anlässlich des Feiertags Simchat Tora

von Benjamin Balint  23.10.2024

Dokumentation

»Eine Welt ohne Herta Müllers kompromisslose Literatur ist unvorstellbar«

Herta Müller ist mit dem Arik-Brauer-Publizistikpreis ausgezeichnet worden. Lesen Sie hier die Laudatio von Josef Joffe

von Josef Joffe  23.10.2024

Literatur

Leichtfüßiges von der Insel

Francesca Segals Tierärztin auf »Tuga«

von Frank Keil  21.10.2024

Berlin

Jüdisches Museum zeigt Oppenheimers »Weintraubs Syncopators«

Es ist ein Gemälde der Musiker der in der Weimarer Republik berühmten Jazzband gleichen Namens

 21.10.2024

Europa-Tournee

Lenny Kravitz gibt fünf Konzerte in Deutschland

Der Vorverkauf beginnt am Mittwoch, den 22. Oktober

 21.10.2024

Geistesgeschichte

Entwurzelte Denker

Steven Aschheim zeigt, wie jüdische Intellektuelle den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts begegneten

von Jakob Hessing  21.10.2024