Es gibt wenig derart Bedrückendes wie den Versuch, Darstellungen der Vorgänge, die wir uns als »Holocaust« oder »Schoa« zu bezeichnen gewöhnt haben, zur Kenntnis zu nehmen. Besonders schwer zu ertragen ist die von Winston Churchill im Juli 1944 als »das vielleicht größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte« bezeichnete Auslöschung der ungarischen Juden.
Wenige Monate vor dem absehbaren Kriegsende wurde in acht Wochen fast eine halbe Million Menschen nach Auschwitz deportiert, während die deutsche Seite in Aussicht stellte, mit dem Morden aufzuhören oder gar darauf zu verzichten – sofern ihnen die Juden Lastwagen von den Westalliierten verschaffen würden.
weltjudentum Wie man heute weiß, ein Versuch des SS-Chefs Heinrich Himmler, über das von ihm als allmächtig fantasierte Weltjudentum mit den Amerikanern ins Gespräch zu kommen und einen für die Nazis rettenden »Separatfrieden« im Westen zustande zu bringen – wofür er sogar bereit war, einen Verzicht auf den von ihm unabhängig davon eifrig weiter betriebenen Judenmord zumindest als Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Auf jüdischer Seite wurden die Verhandlungen bald von Rudolf Kasztner geführt, einem jungen zionistischen Funktionär in Budapest, dem durchaus klar war, dass sich die Alliierten nie auf ein solches Geschäft einlassen würden – der aber hoffte, die Verhandlungen durch Bluff und Bestechung lange genug hinauszögern zu können, um die ungarischen Juden zu retten.
Das Einzige, was er erreichte, war ein Sondertransport, den sogenannten »Kasztner-Zug« mit 1669 Juden, der nach monatelangem Zwischenhalt im KZ Bergen-Belsen gegen ein Lösegeld von 8,6 Millionen Schweizer Franken in die rettende Schweiz gelangte. Eine Aktion, die stets umstritten blieb – ebenso wie Rudolf Kasztner selbst, der 1957 in Tel Aviv von Rechtsextremen als »Verräter seines Volkes« erschossen wurde.
schuld oder unschuld Nun ist ein neues Buch erschienen, Kasztner’s Crime (Kasztners Verbrechen), dessen junger Autor, Paul Bogdanor, die Frage nach Kasztners Schuld oder Unschuld ein für alle Mal klären zu können glaubt. In der internationalen jüdischen Presse findet es starke Beachtung, und es beeindruckt zumindest durch gute Quellenkenntnis.
Dieses Buch ist, wie der Titel klarstellt, eine Anklage, deren große Schwäche in ihrer vermeintlichen Stärke liegt: in der für den Autor zwingenden, lückenlosen Rekonstruktion einer ihm stets einsichtigen Vergangenheit, wo jedem Tun und Lassen ein zweifelsfrei definiertes Motiv zugeordnet werden kann. Er begreift die SS-Mordmaschinerie als zielgerichteten monolithischen Block und nicht, wie eher zutreffend, als bürokratischen »Behemoth« mit sich überlagernden Kompetenzen und internen Machtkämpfen, die Kasztner auszunutzen versuchte.
Kasztner handelte, als jede Hoffnung auf Rettung von außen (Bitte um Bombardierung der relevanten Eisenbahnknotenpunkte und der Gaskammern, Scheinzusagen, um die Mordaktionen aufzuhalten) gescheitert war. Ein Verzweiflungsakt in einer verzweifelten Situation, mit dem er immerhin 1669 Menschenleben rettete.
auschwitz Dass dies, wie Paul Bogdanor nachweisen will, auf Kosten vieler nicht Geretteter erfolgte, trifft nicht zu. Der ungarische Staatsapparat hatte unter Federführung des deutschen Reichs sämtliche zur Verfügung stehenden administrativen und logistischen Mittel aufgeboten, die Juden Ungarns in kürzester Zeit nach Auschwitz zu schaffen, und dies wäre ohne Rudolf Kasztner genauso geschehen.
Kasztner war der zweite Mann der kleinen, unbedeutenden zionistischen Bewegung, dem infolge seiner Verhandlungen mit Eichmann zusätzliche Kompetenzen zufielen, aber ohne damit zum hauptverantwortlichen jüdischen Entscheidungsträger aufzurücken, wie Bogdanor unterstellt.
Kasztner war ein Zocker, Frauenheld und Aufschneider, der sich in einer ihm von außen aufgezwungenen Extremsituation für die Rettung anderer einsetzte und dabei nicht immer die Entscheidungen traf, die man sich im Rückblick wünschen würde. Es gibt Menschen, die ihm ihr Leben verdanken, und Menschen, die ihn verfluchen. Ein tückischer Gestapo-Agent und ausgemachter Schurke, wie Bogdanor ihn sieht, war er nicht.
Mit Kasztner’s Crime wird, anders als Bogdanor meint, nicht das letzte Wort zur schwierigen Erkenntnisfindung über Kasztners Rolle im ungarischen Holocaust gesprochen. Paul Bogdanor ist vielmehr der gleichen Versuchung erlegen, die 1957 in Israel zum Attentat auf Rudolf Kasztner führte: einen bestimmten jüdischen Entscheidungsträger für Vorgänge verantwortlich zu machen, denen man auch als Nachgeborener so verzweifelt und hilflos gegenübersteht wie damals, als sie sich ereigneten.
Paul Bogdanor: »Kasztner’s Crime«. Transaction Publishers, Piscataway (New Jersey) 2016, 335 S., 99,95 $