Olympia 1936

Verbotener Sieg

Jesse Owens wollte nur drei Goldmedaillen. Der amerikanische Superstar der Olympischen Spiele 1936 hatte schon über 100 und 200 Meter sowie im Weitsprung gewonnen, es stand nur noch die 4x100-Meter-Staffel an. »Coach«, sagte Owens, »ich hab’ doch schon drei goldene, ich bin müde, lass doch Marty und Sam laufen. Sie haben es verdient.«

Überliefert hat diesen Satz Marty Glickman, der gemeinsam mit seinem Freund Sam Stoller gemeint war. Sie waren zwei amerikanische Juden, die sich bei den Ausscheidungswettkämpfen für die Staffeln qualifiziert hatten. So war es nämlich beschlossen worden. »Dem Team war gesagt worden«, schreibt der US-Sporthistoriker Arthur Ashe – der als Tennisprofi der erste Schwarze war, der Wimbledon gewonnen hat –, »dass der Vierte, Fünfte, Sechste und Siebte die Staffelmannschaft bilden«. Das wären unter anderem Sam Stoller und Marty Glickman gewesen.

rauswurf Im letzten Moment änderte der Trainerstab seine Meinung, und ins Team rückten Foy Draper und Frank Wykoff. Die waren sowohl bei den Trials als auch bei einem noch im letzten Moment in Berlin angesetzten Test langsamer gewesen. Was aber für sie sprach, war, dass sie, wie auch der Staffeltrainer Dean Cromwell, von der University of Southern California kamen.

Und: dass sie keine Juden waren.

Dieser Dean Cromwell war nämlich Mitglied von »America First«, einer rechtsgerichteten Organisation, in der auch viele Antisemiten zu Hause waren – nicht zuletzt der damalige Präsident des amerikanischen Nationalen Olympischen Komitees, Avery Brundage, der später IOC-Präsident werden sollte.

Musste sich der Ausnahmeathlet Jesse Owens gegen Rassismus durchsetzen, so waren Marty Glickman und Sam Stoller dem Judenhass ausgeliefert. Glickman war in einer armen jüdischen Nachbarschaft von Brooklyn aufgewachsen und galt dort als Fastest Kid on the Block – so der Titel seiner 1999 erschienenen Autobiografie. Weil er so schnell lief, bekam er ein Stipendium der Syracuse University.

Zielfoto Eigentlich wurde Glickman bei den US-Trials zu den Spielen Dritter. Eigentlich. Denn offiziell wurde er zunächst als Fünfter gewertet. Ein Zielfoto gab es damals noch nicht, und bis die Filme entwickelt waren, die bewiesen, dass Glickman auf Platz drei eingelaufen war – womit ihm in Berlin ein Einzelstart zugestanden hätte –, war das Team schon nominiert.

Glickman wurde nur für die Staffel aufgestellt, doch im letzten Moment kam der Rauswurf. »Sie haben uns das so spät gesagt, weil sie wussten, dass ich sonst einen Riesenärger veranstaltet hätte«, sagte Glickman 1999 in einem Interview. »Wir waren schockiert. Sam war völlig verstört. Er hat bei der Mannschaftsbesprechung kein Wort gesagt.« Das Finale mussten die beiden von der Tribüne aus ansehen.

In einem anderen Interview sprach Glickman über die Gründe des Ausschlusses. »Antisemitismus war die wesentliche Ursache, warum Sam und ich nicht bei den Olympischen Spielen laufen durften.« Immer wieder war zu hören, dass das US-Team, das doch schon mit Owens einen Schwarzen als Superstar hatte, die deutschen Gastgeber nicht mit zwei jüdischen Sprintern noch mehr brüskieren wollte.

judenhass Am sportlichen Ausgang änderte das nichts, das amerikanische Team war derart überlegen, dass beinahe jede US-Staffel gewonnen hätte. Selbstverständlich wurde das Team mit etwa 13, 14 Metern Vorsprung Erster, selbstverständlich gelang ihr der Sieg in Weltrekordzeit, und selbstverständlich war Jesse Owens, der ungewöhnlicherweise als Startläufer antrat, statt die Staffel als letzter Mann zum Sieg zu führen, der Star des Abends.

Nach den Spielen wurde Marty Glickman Radioreporter. Er begleitete das Profibasketballteam New York Knicks über Jahrzehnte und wurde in den ganzen USA berühmt. Nach Berlin kehrte er zweimal zurück. Einmal 1986, als er half, einen TV-Bericht zum 50. Jahrestag der Nazispiele zu drehen. Ein anderes Mal begleitete er das Footballteam der New York Giants zu einem Saisonvorbereitungsspiel nach Berlin – ins Olympiastadion.

»Plötzlich überkam mich eine Welle der Wut«, berichtete er über seinen Berlinbesuch, »ich dachte, ich würde ohnmächtig werden. Ich begann jedes schmutzige Schimpfwort herauszubrüllen, jede Obszönität, die ich kannte.« Auch, dass sich das NOK 1998 offiziell entschuldigte, vermochte ihn bis zu seinem Tod 2001 nicht zu beruhigen. »Wir bedauern diese Ungerechtigkeit«, sagte William Hybl, der damalige Präsident. »Wir erkennen zwei große Persönlichkeiten an.«

Immerhin, einen kleinen Triumph konnte Marty Glickman feiern: Kurz nach Olympia 1936 trat die US-Staffel bei einem Wettkampf in England an: mit Stoller, mit Glickman, mit Owens – und mit Weltrekord. Einen ungleich größeren Triumph, der Glickman begeistert hätte, feierte seine jüngste Tochter: 2015 bei den European Maccabi Games in Berlin zündete Nancy Glickman die Flamme an. Auch Sam Stollers Cousin Steven besuchte die Spiele.

Hitler »Ich bin ihnen zu Ehren nach Berlin gekommen«, sagte er der Jüdischen Allgemeinen damals über die zwei verhinderten Olympiasieger. Für Steven Stoller ist bis heute klar, dass es am Judenhass von Avery Brundage lag, dass sein Großcousin nicht starten durfte. »Avery Brundage, war ein bekennender Antisemit und Freund Hitlers. Hitler soll Brundage gebeten haben, Juden aus dem Team zu nehmen – also durften Sam Stoller und Marty Glickman nicht antreten.«

Es ist keinesfalls historisch sicher, dass Jesse Owens nicht um sein viertes Gold laufen wollte. Die einzige Überlieferung des Zitats lieferte Glickman selbst. Und auch, dass es Antisemitismus war, der die Trainer die Staffel umbesetzen ließ, kann man nur vermuten – wenn auch mit starken Gründen. Aber Arthur Ashe meint, selbst wenn der Trainer nur seine eigenen Leute favorisiert hätte, wäre es die Erfahrung von Diskriminierung. »Das ist Schwarzen über Generationen hinweg geschehen.«

Meinung

Nur scheinbar ausgewogen

Die Berichte der Öffentlich-Rechtlichen über den Nahostkonflikt wie die von Sophie von der Tann sind oft einseitig und befördern ein falsches Bild von Israel

von Sarah Maria Sander  21.04.2025

Sehen!

»Die Passagierin«

Am Deutschen Nationaltheater in Weimar ist eine der intelligentesten Nachinszenierungen von Mieczyslaw Weinbergs Oper zu sehen

von Joachim Lange  21.04.2025

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025