Ausstellung

Utopien des Untergangs

»Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut/ In allen Lüften hallt es wie Geschrei./ Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei/ Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut./ Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/ An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken./ Die meisten Menschen haben einen Schnupfen./ Und Eisenbahnen fallen von den Brücken.« So wunderschön wie weltberühmt ist dieses Gedicht, das 1911 erstmals veröffentlicht wurde. Der Autor war Jakob van Hoddis, geboren 1887 als Hans Davidson und 1942 ermordet in Sobibór, einer der wichtigsten Repräsentanten des literarischen Expressionismus.

revolte Alles war Expressionismus damals. Die Gesichter auf den Gemälden wurden lang und schräg, die Farben grell, die Pferde blau. Aus den Gedichten verschwanden die blauen Blumen, man reimte plötzlich von Leichenhallen, von Kokain und welken Damenbrüsten, während auf den Theaterbühnen die bürgerlichen Salons zerschlagen wurden und höhere Töchter kopulierten, wenn sie sich nicht gleich die Kugel gaben: »Entweder man verbürgerlicht, oder man begeht Selbstmord«, hieß es in einem berühmten Stück dieser Zeit. Eine Weile lang, in den ersten Jahren der Weimarer Republik, war der Expressionismus die dominante Massenkultur.

Der Anteil jüdischer Künstler an dieser dezidiert antibürgerlichen Bewegung, der die Mathildenhöhe in Darmstadt noch bis zum 13. Februar eine umfassende Ausstellung widmet, war groß, insbesondere in der Literatur, in der Architektur und in der neuen Kunst des Films. Auch jüdische Motive spielten eine große Rolle, am prominentesten in Paul Wegeners drei »Golem«-Spielfilmen zwischen 1914 und 1920. Besonders der dritte von ihnen, Der Golem, wie er in die Welt kam, wurde ein Welterfolg, der die jüdische Legende für breite Massen popularisierte.

widersprüchlich Aber was genau versteht man eigentlich unter »Expressionismus«? Er erscheint, je genauer man hinschaut, als enorm widersprüchliche Bewegung: Urban, aber geprägt von Natursehnsucht, intellektuell, aber gefühlvoll; kritisch, aber ganzheitlich; modern, aber mit Hang zum Idyllischen. Und welchen gesellschaftlichen Trend verkörperte er? Der marxistische Kulturtheoretiker Georg Lukács glaubte, dass der Expressionismus am Ende mehr oder weniger direkt zu Hitlers Herrschaft führte – sein Kronzeuge war der Dichter Gottfried Benn, nach 1933 Propagandist des neuen Regimes. Der Expressionismusexperte Silvio Vietta wiederum argumentiert, die Bewegung sei »nachweis- lich eine Quelle des Widerstandes gegen den Faschismus gewesen«. In jedem Fall gilt der Expressionismus als deutscheste der Avantgarden der Moderne. Es gibt zu ihm kein Pendant in Frankreich, Italien oder England.

Kann man in diesem Fall überhaupt von einem einheitlichen Stil sprechen? Die Frage stellt sich, wenn man durch die Räume der Ausstellung geht: Man begegnet dort plattem Realismus wie kubistischer Abstraktion, naiven Ganzheitlichkeitsideen und Versöhnungsträumen, aber auch dem Wunsch nach Freiheit vom Gemeinschaftszwang, nach »Ich-Erweiterung«. Heißer Rausch und warme Esoterik stehen neben kühlen Bestandsaufnahmen und eiskalter Kritik der Verhältnisse, abgründiger Pessimismus neben Revolutionsromantik .

Die Ausstellung betont vor allem die Zusammenhänge in der Widersprüchlichkeit: »Film, Literatur, Kunst, Theater, Tanz und Architektur 1905-1925«, so der Untertitel der Schau, sind nicht voneinander zu trennen. Die Verbindung der Künste war ein Leitmotiv, etwa in der großartigen Plastik »Dreiklang« des heute vergessenen Rudolf Belling (1886-1972), der, wie viele Expressionisten, nach dem Machtantritt der Nazis emigrieren musste. Es zeigt sich, dass manches, das uns heute unvereinbar scheint, damals durchaus miteinander verbunden war. Das sieht man etwa im Werk von Erich Mendelsohn (1887-1953), einem der wichtigsten Architekten des Expressionismus. Schon früh kam er in München in Kontakt mit den Malern des »Blauen Reiter« und der »Brücke«. Zu seinen wichtigsten Bauwerken gehören der sehr organische, weiche Potsdamer Einsteinturm (1922), ein Observatorium, und kurz darauf jenes viel kühlere, fast konstruktivistisch anmutende Kino am Lehniner Platz, das – umgebaut – heute die Berliner Schaubühne beherbergt. Auch in der Musik von Hindemith, Schönberg und Strawinsky erkennt man plötzlich Facetten des Expressionismus.

Albträume Wenn es eine »Philosophie des Expressionismus« gäbe, argumentiert Petra Gehring im Ausstellungskatalog, dann wäre es eine Verbindung von Rausch, Traum und Realität, die neue, zuvor nicht bewusste Formen von Grauen und Tod entblößt. In Freuds Psychoanalyse, in der Entdeckung des Unbewussten, der Aufwertung von Sexualität und einer neuen Offenheit gegenüber Drogen-Grenzerfahrungen sieht sie den Schlüssel zum expressionistischen Lebensgefühl: Die Entfesselung von Eros und Tod ist Ausdruck eines Unbehagens an der Kultur. Zeitkritik verband sich mit Ganzheitsutopien und der geschärften Aufmerksamkeit für Extreme.

Besonders deutlich wird das im Kino: Mehrere Räume in Darmstadt sind Filmen gewidmet. Im Zentrum steht Robert Wienes berühmtes Cabinet des Dr. Caligari. Hier bündelt sich alles: Serienmörder, Traum, Manipulation und Entfremdung, Nervenheilanstalt. Siegfried Kracauer interpretierte den Film später als unbewusste Vorwegnahme des aufkommenden Nationalsozialismus: Caligari als Tyrann und eine Gesellschaft, die verrückt wird.

Die Ausstellung endet mit dem Jahr 1925: Der Expressionismus ist Massenkultur geworden und inspiriert sogar Werbung für Zahnpasta und Waschmittel. Im gleichen Jahr erscheint Hitlers Mein Kampf. Acht Jahre später galt der Expressionismus als »entartet« und viele Albträume seiner Künstler wurden wahr.

Gesamtkunstwerk Expressionismus. Mathildenhöhe Darmstadt, bis 13. Februar 2011
www.mathildenhoehe.info

Berlinale-Preisverleihung

Ohne Israelhass geht es nicht

Der gute Wille war da bei der neuen Festivalleitung, doch auch bei der Verleihung der Bären am Samstagabend kam es zu anti-israelischen Aussetzern

von Sophie Albers Ben Chamo  22.02.2025

Berlin

Berlinale gedenkt Opfers des Angriffs am Holocaust-Mahnmal

Am Vorabend wurde ein spanischer Tourist von einem syrischen Flüchtling, der Juden töten wollte, mit einem Messer angegriffen

 22.02.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025