Jubiläum

Utopia mit kleinen Fehlern

Die vermeintliche freie Liebe im Kibbuz erschöpfte sich im Fremdgehen: Szene aus Dror Shauls Film »Sweet Mud« Foto: Verleih

Eigentlich war der Kibbuznik Ran ein maßvoller Raucher. Eine Packung Noblesse-Zigaretten pro Woche reichte ihm völlig. Doch Ran hatte nicht mit dem wachsamen Auge des Kollektivs gerechnet. »Chaver«, eröffnete man ihm eines Tages, »wenn du schon rauchst, dann musst du die normale Zuteilung von zehn Packungen pro Monat nehmen. Das ist nun einmal die Regel.« So kam es, dass Ran schon in jungem Alter dank des egalitären Kibbuzprinzips zum Kettenraucher wurde.

kollektiv Israel feiert in diesem Jahr den hundertsten Geburtstag der Kibbuzbewegung. 1910 wurde am Kinneretsee Degania Alef gegründet, die erste Kollektivfarm. In den Kibbuzim sollte der Sozialismus Wirklichkeit werden. Die Mitglieder, »Chawerim« – Genossen – genannt, arbeiteten ohne Lohn für das Kollektiv, das ihnen im Gegenzug Wohnung, Kleidung, Verpflegung und medizinische Versorgung stellte. Privateigentum gab es nicht, ebenso wenig traditionelle Kleinfamilien. Die Hausarbeit erledigten zentrale Wäschereien und Schneidereien, gegessen wurde im gemeinsamen Speisesaal, dem »Chadar Ochel«. Auch die Kinderbetreung war kollektiviert. Der Kibbuznachwuchs lebte im eigenen Kinderhaus, betreut von Erzieherinnen, den Metaplot. Dabei ging es, anders als in chinesischen Volkskommunen oder sowjetischen Kolchosen, im Kibbuz streng demokratisch zu. Entscheidungen wurden in der Mitgliederversammlung basisdemokratisch getroffen. Hierarchien waren abgeschafft. Bei Führungsposten galt das Rotationsprinzip. Doch inzwischen ist manchen Kibbuzim der Sozialismus zu anstrengend geworden. Früher hieß es: Jedem nach seinen vom Kollektiv definierten Bedürfnissen. Mittlerweile ist in mindestens zwei Dritteln der Siedlungen Lohnarbeit eingeführt worden. Wenn Ran heute zur Tasse Elite-Pulverkaffee eine Noblesse rauchen will, bezahlt er seine Sucht von seinem bescheidenen Monatslohn. Es wurden sogar schon private Swimmingpools gesichtet. Der müde Kibbuznik liest zum Feierabend nicht mehr Karl Marx, sondern schaut sich im privaten TV-Gerät die israelische Version von »Wer wird Millionär« an.

mythos Früher, in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren, war sowieso alles besser. Da kamen hübsche Volunteer-Mädchen aus aller Welt – sogar aus Persien, erinnert sich Ran – in die Kibbuzim, um in kurzen Shorts Bananen zu pflücken und ab 15 Uhr am Swimmingpool zu liegen. In Dror Shauls Kibbuz-Kultfilm Operation Grandma, dessen Dialoge jeder anständige Kibbuznik im Halbschlaf dahersagen kann, durchpflügt ein muskulöser Kibbuznik die Wellen des Pools, taucht vor einer blonden Freiwilligen auf und fragt lässig: »Do you want to come to my room for a fuck of coffee?« Was damals jedes Jahr Tausende von jungen Leuten aus aller Welt in die Kibbuzim lockte, um dort gegen Taschengeld in Plantagen und Fabriken zu arbeiten, waren aber nicht nur Sonne, Sex und Hora. Jungen Linkszionisten aus der Diaspora, wie dem britischen Historiker Tony Judt, ging es um die Selbstverwandlung vom »Galut-Juden« zum »Neuen Hebräer«. In den Kibbuzim, glaubten diese jungen Idealisten, würde die harte »jüdische Arbeit« sie von ihrem schmachvollen Diaspora-Dasein erlösen. Doch mit dem Mythos Kibbuz ist es wie mit der Liebe: Ein Urlaubsflirt bleibt ewig schön in der Erinnerung. Sobald daraus eine Ehe wird, sieht die Sache anders aus. Freie Liebe gab es im Kibbuz ebenso wenig wie Freiheit der Berufswahl. Die sexuelle Libertinage, erkannte Judt bald, erschöpfte sich im Fremdgehen (worüber der ganze vertratschte Kibbuz im Nu informiert war), und wer was studieren durfte, darüber entschied das Kollektiv. Nein, die Kibbuzniks sind nicht das geworden, wo-von die Gründer der Bewegung träumten: Neue Menschen. Auch im Kibbuz gab und gibt es Fälle von Mobbing und Diebstahl. Sogar von sexueller Misshandlung und Vergewaltigung wurde schon berichtet. Auch im Kibbuz waren Menschen depressiv. Das Kinderhaus war zwar besser als sein Ruf, aber es hat die Menschen nicht glücklicher gemacht: Sogar dort schlich sich der Ödipus-Komplex ein.

Renaissance Und doch: Die Häme, mit der seit Jahren – auch hierzulande – triumphierend verkündet wird, das Kibbuz-Experiment sei endgültig gescheitert, ist unangebracht. Vom generationsübergreifenden Leben im Kollektiv, den Mühen der Ebenen mit ihren hohen Anforderungen an die soziale Intelligenz des Einzelnen, haben diese Schadenfrohen nicht die blasseste Ahnung. Die Kibbuzniks haben nicht nur den Aufbau des Staates Israel erst ermöglicht, sie haben in der Tat bewiesen, dass eine freie Form des Sozialismus möglich ist. Zugegeben: Von den rund 270 Kibbuzim, die heute noch existieren, sind einige bereits de facto aufgelöst. Andere haben ehemals kollektive Dienstleistungen privatisiert und im Speisesaal sogar die Bezahlung per Magnetkarte eingeführt. Aber es existieren immer noch Kibbuzim, in denen es keine unterschiedlichen Löhne gibt und wo sich die Gemeinschaft von der Wiege bis zur Bahre um ihre Mitglieder kümmert. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass es ideologisch gefestigten Kollektiven – wie etwa dem Kibbuz Mishmar Ha-Emek – gelungen ist, ihren Mitgliedern eine Lebensqualität zu bieten, die man sich »draußen« nur als Millionär leisten kann. Deshalb kehren viele im Kibbuz geborene Israelis zwecks Familiengründung wieder zurück in die Kollektive.

Raketen Die Kibbuzbewegung erlebt eine kleine Renaissance. Rund tausend junge Idealisten der Noar Ha-Oved ve-Ha-Lomed, der »arbeitenden und lernenden Jugend«, sitzen in den Startlöchern, um überalterte Kibbuzim zu übernehmen oder neue zu gründen. Auch eine neue Form des Kollektivs ist entstanden, der Stadtkibbuz. So leben in Sderot bereits seit über zwanzig Jahren mehrere Familien im Kollektiv »Migvan« zusammen. Die Raketen der Hamas haben sie nicht vertreiben können. In Migvan ist nicht wie im klassischen Kibbuz der Einzelne für das Kollektiv da, im Stadtkibbuz hilft die Gemeinschaft dem Individuum bei seiner Selbstverwirklichung. Und dies auch dann, wenn es nicht profitabel für das Kollektiv ist. Nicht zuletzt gibt es die Oldtimer, die ihren Kibbuzim treu geblieben sind. Wie Miriam Uri, die rund 90 Jahre alt ist und jeden Tag auf ihren Rollator gestützt in den Kibbuz-Speisesaal geht (wo Ran inzwischen nicht mehr rauchen darf). Von ihr stammt die schönste Definition des frühen Kibbuz: »Wenn die Frau mit den größten Brüsten bei der Kleiderausgabe den kleinsten BH bekam.«

Kultur

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