Wer den 80-jährigen israelischen Historiker Otto Dov Kulka in seinem kleinen Büro auf dem Campus der Hebräischen Universität in Jerusalem besucht, der wird auf die Musik Bachs treffen, auf dessen Goldberg-Variationen. Sie begleiteten Kulkas Forschungen zum Deutschen Judentum unter den Nationalsozialisten. Er hört sie oft und hat sie sich auch als Einstimmung und Ausklang zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises für sein autobiografisches Buch Landschaften der Metropole des Todes gewünscht.
Wie nahe diesem beherrscht wirkenden Mann, immer mit Tüchlein im Kragen und huschenden Augen, die nichts übersehen wollen, der Festakt in der Großen Aula der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wirklich geht, weiß keiner zu sagen. Kulkas Buch mit dem Untertitel »Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft« gibt zwar Einblick in sein Seelenleben, aber man bleibt doch draußen, staunend und verstört.
Wucht »Der Vorschlag, dem Buch den Preis zu geben, hat sehr breite Zustimmung gefunden«, sagt Marian Offman, der als CSU-Stadtrat schon viele Jahre in der Jury des Geschwister-Scholl-Preises mitentscheidet. Ihn habe der Text »tief beeindruckt«. »Wenn sich ein Historiker, der sich mit dem Holocaust befasst, dazu durchringen kann, subjektive Erinnerung, die Sicht des Kindes, das er war, in einem Buch niederzulegen, dann ist das etwas Besonderes. Dazu diese sprachliche Wucht. Dieses Buch hat den Preis mehr als verdient«, ist Offman sich sicher.
Jörg Platiel vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der zusammen mit der Stadt München den mit 10.000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis vergibt, schließt sich diesem Urteil in seiner Rede an: »So absurd das klingen mag, Otto Dov Kulkas Erinnerungsbuch zu den Todeslandschaften von Auschwitz ist ein Glücksfall.«
1933 in der Tschechoslowakei geboren, wird der zehnjährige Dov Kulka im Herbst 1943 zusammen mit seiner Mutter vom Ghetto Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. 1945 verlässt er den Ort auf einem Todesmarsch. Er hat überlebt, wie auch der Vater. Die Mutter nicht. In seinem Buch, das er eigentlich nie hatte schreiben wollen, hat Dov Kulka seine Erinnerungen vorsichtig in Worte gekleidet, poetisch und doch wissend, seine »Kindheitslandschaft Auschwitz« manifestierend, die er seit 70 Jahren in sich trägt.
unverändert Dorthin flüchtet er sich bis heute. »Ich besuche sie in meinen Träumen, sowohl wachend als auch im Schlaf. Ich finde meine Freiheit in ihr, weil ich in dieser Landschaft alleine bin«, hat Dov Kulka einer Journalistin anvertraut.
Die Historikerin Susanne Heim weist in ihrer klugen, besonnenen Laudatio auf etwas hin, was bei aller Begeisterung auf Leserseite nicht ganz vergessen werden darf: Was bedeutet die Öffentlichkeit seiner Spurensuche für Dov Kulka? »Wir werden seine Landschaften nicht betreten«, sagt Heim an ihn gerichtet, eine Versicherung dafür, dass er seinen Rückzugsort behalten wird. »Mein Leben wird weitergehen wie bisher«, sagte Dov Kulka bei einem kleinen Pressegespräch vor den Feierlichkeiten. »Unverändert, das Buch wird seinen eigenen Weg finden.«
In seiner Dankesrede geht Kulka mit Bemerkungen zu seinem Buch sehr sparsam um. Als Historiker schafft er sich Abstand, drückt seine Bewunderung aus für die Geschwister Scholl, weist auf die Direktheit ihrer Worte hin. Kulka erinnert daran, dass er als einer der ersten israelischen Historiker in den 60er-Jahren nach Deutschland ging, um gemeinsam mit jungen deutschen Geschichtswissenschaftlern zu forschen. »Sie können fragen: Wo war Auschwitz zu jener Zeit? Es war anwesend«, sagt Kulka. In seinen Tagebüchern, Träumen und Tonbandaufnahmen.
Otto Dov Kulka bekommt in der Aula lang anhaltenden Applaus. Dann erklingt wieder Bach. Der Pianist verbeugt sich, geht und merkt nicht, dass Otto Dov Kulka kurz von seinem Stuhl in der ersten Reihe aufgesprungen ist und nun ihm Beifall klatscht. Ein kleiner erlösender Moment.