Ehrung

Unzugängliche Erinnerungslandschaften

Jörg Platie, Otto Dov Kulka, Münchens OB Christian Ude (v.l.) bei der Preisverleihung Foto: Kerstin Dahnert

Wer den 80-jährigen israelischen Historiker Otto Dov Kulka in seinem kleinen Büro auf dem Campus der Hebräischen Universität in Jerusalem besucht, der wird auf die Musik Bachs treffen, auf dessen Goldberg-Variationen. Sie begleiteten Kulkas Forschungen zum Deutschen Judentum unter den Nationalsozialisten. Er hört sie oft und hat sie sich auch als Einstimmung und Ausklang zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises für sein autobiografisches Buch Landschaften der Metropole des Todes gewünscht.

Wie nahe diesem beherrscht wirkenden Mann, immer mit Tüchlein im Kragen und huschenden Augen, die nichts übersehen wollen, der Festakt in der Großen Aula der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wirklich geht, weiß keiner zu sagen. Kulkas Buch mit dem Untertitel »Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft« gibt zwar Einblick in sein Seelenleben, aber man bleibt doch draußen, staunend und verstört.

Wucht »Der Vorschlag, dem Buch den Preis zu geben, hat sehr breite Zustimmung gefunden«, sagt Marian Offman, der als CSU-Stadtrat schon viele Jahre in der Jury des Geschwister-Scholl-Preises mitentscheidet. Ihn habe der Text »tief beeindruckt«. »Wenn sich ein Historiker, der sich mit dem Holocaust befasst, dazu durchringen kann, subjektive Erinnerung, die Sicht des Kindes, das er war, in einem Buch niederzulegen, dann ist das etwas Besonderes. Dazu diese sprachliche Wucht. Dieses Buch hat den Preis mehr als verdient«, ist Offman sich sicher.

Jörg Platiel vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der zusammen mit der Stadt München den mit 10.000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis vergibt, schließt sich diesem Urteil in seiner Rede an: »So absurd das klingen mag, Otto Dov Kulkas Erinnerungsbuch zu den Todeslandschaften von Auschwitz ist ein Glücksfall.«

1933 in der Tschechoslowakei geboren, wird der zehnjährige Dov Kulka im Herbst 1943 zusammen mit seiner Mutter vom Ghetto Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. 1945 verlässt er den Ort auf einem Todesmarsch. Er hat überlebt, wie auch der Vater. Die Mutter nicht. In seinem Buch, das er eigentlich nie hatte schreiben wollen, hat Dov Kulka seine Erinnerungen vorsichtig in Worte gekleidet, poetisch und doch wissend, seine »Kindheitslandschaft Auschwitz« manifestierend, die er seit 70 Jahren in sich trägt.

unverändert Dorthin flüchtet er sich bis heute. »Ich besuche sie in meinen Träumen, sowohl wachend als auch im Schlaf. Ich finde meine Freiheit in ihr, weil ich in dieser Landschaft alleine bin«, hat Dov Kulka einer Journalistin anvertraut.

Die Historikerin Susanne Heim weist in ihrer klugen, besonnenen Laudatio auf etwas hin, was bei aller Begeisterung auf Leserseite nicht ganz vergessen werden darf: Was bedeutet die Öffentlichkeit seiner Spurensuche für Dov Kulka? »Wir werden seine Landschaften nicht betreten«, sagt Heim an ihn gerichtet, eine Versicherung dafür, dass er seinen Rückzugsort behalten wird. »Mein Leben wird weitergehen wie bisher«, sagte Dov Kulka bei einem kleinen Pressegespräch vor den Feierlichkeiten. »Unverändert, das Buch wird seinen eigenen Weg finden.«

In seiner Dankesrede geht Kulka mit Bemerkungen zu seinem Buch sehr sparsam um. Als Historiker schafft er sich Abstand, drückt seine Bewunderung aus für die Geschwister Scholl, weist auf die Direktheit ihrer Worte hin. Kulka erinnert daran, dass er als einer der ersten israelischen Historiker in den 60er-Jahren nach Deutschland ging, um gemeinsam mit jungen deutschen Geschichtswissenschaftlern zu forschen. »Sie können fragen: Wo war Auschwitz zu jener Zeit? Es war anwesend«, sagt Kulka. In seinen Tagebüchern, Träumen und Tonbandaufnahmen.

Otto Dov Kulka bekommt in der Aula lang anhaltenden Applaus. Dann erklingt wieder Bach. Der Pianist verbeugt sich, geht und merkt nicht, dass Otto Dov Kulka kurz von seinem Stuhl in der ersten Reihe aufgesprungen ist und nun ihm Beifall klatscht. Ein kleiner erlösender Moment.

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025

Glosse

Ein Hoch auf die Israelkritik

Der »Spiegel« hat mit dem indischen Essayisten Pankaj Mishra ein »erhellendes« Interview zum Nahostkonflikt geführt

von Michael Thaidigsmann  18.02.2025

Gaza

Erstes Lebenszeichen von David Cunio

Der 34-Jährige Israeli ist seit dem 7. Oktober 2023 Geisel der Hamas – bei der Berlinale wird an an den Schauspieler erinnert

 18.02.2025