Wo die Allenby Street den Rothschild Boulevard kreuzt und sich zahlreiche hippe Terrassen-Restaurants, Bars und Cafés befinden, schlägt das Herz von Tel Aviv – zumindest für jene Progressiv-Gutsituierten, die ihren auswärtigen Gästen gern die neuesten Schreckensmeldungen über die vermeintlich »bei uns wachsende Intoleranz« mitteilen und zum Dank ein einverständiges Kopfnicken erhalten.
Der deutsche Schriftsteller und Fernsehjournalist Norbert Kron – vor zwei Jahren Initiator der deutsch-israelischen Prosa-Anthologie Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen – ist zum Glück keiner jener naiv Zugereisten, die das Erstgehörte missverstehen als das Letztgültige. Im doppelten Wortsinn nämlich geht er die Allenby noch ein Stück hoch und dann wieder hinunter, wo sie zur HaAliya Street wird. Ironie der Stadtgeschichte: Wer hier »Alija« macht, ist vor allem nichtjüdischer Herkunft, ist Vertragsarbeiter oder Flüchtling aus Darfur und Eritrea, sozial fragil und stets in Gefahr, den kleinkriminellen Versuchungen anheimzufallen, die dann noch weiter südlich, in der heruntergekommenen Gegend um den Zentralen Busbahnhof, lauern.
Vertrauen Freilich gibt es hier, im multi-ethnischen Viertel Neve Shaanan, die 2004 gegründete Bialik-Rogozin-Schule, in der von der ersten bis zur zwölften Klasse Kinder aus 51 Nationen unterrichtet werden – unter der Ägide des ehemaligen Schauspielers und inzwischen landesweit als Ausnahmepädagogen gefeierten Eli Nechama.
Gutmenschen-Deklarationen verschmäht der ebenso effiziente wie altruistische Eli übrigens wie die Pest – was stattdessen zählt, sind Schüler, die sich bei psychischer Überforderung weinend in seine Arme flüchten können, ihn als Vertrauensperson für häusliche Probleme wahrnehmen und doch auch sofort aufmerken, wenn es klare Ansagen gibt: Rennen, schreien, raufen und gesichtsverhüllende Kleidung sind in der Schule tabu.
Und es wird Wert auf Kunst gelegt, die Empathie schafft und Misstrauen zerstäubt. Norbert Kron wurde so in seinem Langzeitprojekt Zeuge von Mal-Aktionen, deren Zauber sich irgendwann selbst die verschlossensten Klein-Machos nicht entziehen können, von Musikstunden, die Mitglieder der Israelischen Philharmoniker gratis geben, und schließlich von Veranstaltungen, in denen Afrikaner hebräische Purimlieder singen. Dazu wird den Schülern beim Aufbau eines schuleigenen Botanischen Gartens die Schönheit der Ambivalenz offenbar: Jede Pflanze, die hier auf israelischem Boden Wurzeln schlägt, hat »Migrationshintergrund«.
Hochschulreife Um jenseits von Kulturrelativismus und Assimilierungszwang Angebote zu einer stabilen Identität und Seelenlage zu machen, werden in der Schule neben Hebräisch auch zahlreiche Herkunftssprachen unterrichtet – von Freiwilligen, die auf diesem Weg den Entwurzelten von heute und dem Staat Israel etwas Positives zurückgeben möchten. Der Erfolg gibt Eli und seinen Mitstreitern (besonders beeindruckend die Biografien von Yael Fisher Avitan und Devora Schlesinger) auf bemerkenswerte Weise recht: »An der Bialik-Rogzin-Schule erlangen 96 Prozent der Schüler die Hochschulreife, während der israelische Landesdurchschnitt nur bei 53 Prozent liegt.«
Während die Regierungs-Rechte von Eli Nechama, der permanent in leidigen Pass- und Visaangelegenheiten interveniert, reichlich genervt ist, runzelt auch die sogenannte postzionistische Linke mitunter die Stirn: Weshalb lässt man Schüler in Kontakt mit der Armee kommen, weshalb zeigt man ihnen Yad Vashem und vermittelt den Davidstern als einigendes Symbol? Links tauchte das böse Wort von der »Gehirnwäsche« auf, während rechts Verteidigungsminister Lieberman die ehrenamtliche Hilfsarbeit israelischer Soldaten für Zuwanderer verbot und sich Kulturministerin Regev sogar zu der Behauptung verstieg, Afrikaner seien ein »Krebs«.
Zionismus Wäre Norbert Kron einer jener typischen deutschen Journalisten, würde sein hoffnungsvolles Buch wohl mit einem pessimistischen »Na siehste!« enden – stattdessen aber zeigt es, wie lebendig das ethische, universelle Erbe des Zionismus ist und wie ein traumatisierter Flüchtlingsjunge wie der Eriträer Berhe oder die smarte Michelle aus Kenia das Land Israel längst zu ihrer Wirklichkeits- und Herzensheimat erkoren haben.
Für die deutsche Debatte zusätzlich von Interesse: Krons Beschreibung der UNESCO-Schule in Essen, der gegenseitigen Besuche und seine aus diesen hochkomplexen Erfahrungen gefilterten konkreten Vorschläge, wie auch Deutschland von den Tel Aviver Erfahrungen lernen könnte. Man wünscht diesem flüssig geschriebenen, wunderbaren Buch, das Ratio und Emotion gleichermaßen anspricht, viele Leser.
Norbert Kron: »Ein Zuhause in der Fremde. Was wir in Deutschland von der besten Schule für Einwanderer lernen können«. Gütersloher Verlagshaus, München 2017, 237 S., 19,99-€