DDR

Unter Hammer und Zirkel

Zwei Bücher beleuchten unterschiedliche Erfahrungen von Juden im »Arbeiter- und Bauernstaat«

von Jérôme Lombard  03.10.2023 10:54 Uhr Aktualisiert

Der Band rückt Lebensrealitäten in den Fokus. Foto: PR

Zwei Bücher beleuchten unterschiedliche Erfahrungen von Juden im »Arbeiter- und Bauernstaat«

von Jérôme Lombard  03.10.2023 10:54 Uhr Aktualisiert

Die DDR und die Juden: Dieses Thema lässt sich aus mehreren Perspektiven betrachten. Da wäre zum einen die Welt der kommunistisch gesinnten Remigranten, die nach der Schoa in das Land der Täter zurückkehrten, weil sie fest an ein »anderes Deutschland« unter sozialistischen Vorzeichen glaubten: Hanns Eisler, Anna Seghers, Arnold Zweig, Stephan Hermlin, Walther Victor – um nur einige zu nennen.

Da sind zum anderen die Gemeinden in den großen Städten wie Berlin, Leipzig und Dresden, die im Laufe der Jahre bis zum Ende der DDR immer weiter schrumpften – und die Frage, inwieweit organisiertes jüdisch-religiöses Gemeindeleben im realsozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat mit seiner atheistischen Grundhaltung möglich war. Da sind schließlich die antisemitischen Repressionen Anfang der 50er-Jahre, das Nichtverhältnis der DDR-Führung zum Staat Israel und deren Unterstützung palästinensischen Terrors.

PERSÖNLICHKEITEN Zwei unlängst im Hentrich & Hentrich Verlag erschienene Bände beleuchten diese unterschiedlichen jüdischen Erfahrungswelten in der ehemaligen DDR. Der Sammelband Juden in der DDR, von Anetta Kahane und Martin Jander herausgegeben, vereint 16 Porträts. Die meisten erzählen von bekannten jüdischen Persönlichkeiten wie etwa Victor Klemperer, Stefan Heym oder Barbara Honigmann. Mit Paul Merker und Reimar Gilsenbach finden sich auch zwei nichtjüdische Porträts in dem Buch wieder.

Paul Merkers Verfolgung erscheint als Sinnbild der nie erfolgten Anerkennung Israels durch die DDR.

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf rückt in seinem Beitrag über den KPD- und SED-Funktionär Paul Merker die antizionistische Staatsdoktrin der DDR in den Fokus. Merker wurde 1952 unter anderem wegen seiner Unterstützung für die Gründung eines jüdischen Nationalstaats als »feindlicher Agent« verhaftet und für mehrere Jahre ins Gefängnis gesteckt. Seine Verfolgung erscheint als Sinnbild der nie erfolgten Anerkennung des Staates Israel durch die DDR-Führung und den Hohn, den die stets gepredigte antifaschistische Solidarität mit den Unterdrückten dieser Welt für die Juden darstellte.

GEMEINDEN Der Jung und jüdisch in der DDR betitelte Band von Sandra Anusiewicz-Baer und Lara Dämmig widmet sich den Lebensrea­litäten von Angehörigen der zweiten und dritten Generation nach der Schoa – und der Frage, wie Kinder und Jugendliche aus Familien mit jüdischen Eltern ihr Jüdischsein im Realsozialismus erlebten. Das Buch richtet den Blick weg von den bekannten Persönlichkeiten der jüdischen DDR-Geschichte. Dämmig, ehemals Mitglied der Ost-Berliner jüdischen Gemeinde, und Anusiewicz-Baer, aufgewachsen in Dresden, stellen dafür die Gemeinden und ihre Mitglieder in den großen Städten in den Vordergrund.

Sie nehmen das jüdische Kinderferienlager des Verbands der jüdischen Gemeinden in der DDR, das ab 1961 jährlich an der Ostsee stattfand, zum Ausgangspunkt für ihre Gespräche. »Die Interviews widerspiegeln keine kompletten, kohärenten Lebensgeschichten«, schreiben die Autorinnen. »Sie fokussieren auf Familiengeschichte und deren Tradierung, auf die Entwicklung eines eigenen jüdischen Bewusstseins unter den Bedingungen des Sozialismus und auf den Stellenwert, den die Aktivitäten und Begegnungen in den Gemeinden dabei eingenommen haben.« Ein erfrischend anderer, niedrigschwelliger und persönlicher Blick auf die junge jüdische Erfahrungswelt in der ehemaligen DDR.

Martin Jander, Anetta Kahane (Hrsg.): »Juden in der DDR«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2021, 224 S., 22,90 €
Sandra Anusiewicz-Baer, Lara Dämmig: »Jung und jüdisch in der DDR«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2021, 236 S., 24,90 €

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  06.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Sukka-Fishing oder Sechs Stunden täglich auf dem Hometrainer

von Margalit Edelstein  06.11.2024

Meinung

Wir erleben eine Zäsur

Eine Resolution zum Schutz jüdischen Lebens ist in Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Was bedeutet das für unsere Zukunft?

von Ayala Goldmann  05.11.2024

Film

Debatte gegen den Tod

Jurijs Saule inszeniert in »Martin liest den Koran« provokant eine thrillerhafte Diskussion über religiösen Extremismus und die Auslegung von Glaubensgeboten

von Jens Balkenborg  05.11.2024

Nachruf

»Also sprach Zarabauer«

Yehuda Bauer war nicht nur Historiker, sondern auch ein begnadeter Redner mit viel Humor

von Laurence Weinbaum  04.11.2024

Dokumentation

»Ein Bürger, ein Demokrat, ein Humanist, der für uns aufbegehrt«

Friedman erhält die Goethe-Plakette. Lesen Sie die Laudatio von Carolin Emcke

von Carolin Emcke  04.11.2024

Nachruf

Abschied von einem genialen Musiker und Produzenten

Quincy Jones produzierte Michael Jackson. Auch er selbst lieferte Unmengen an Musik

von Imanuel Marcus  04.11.2024

Hito Steyerl

Künstlerin mit Kompass

In ihrer Ausstellung »Normalität« setzt sich die Filmemacherin mit antisemitischer Gewalt auseinander

von Eugen El  04.11.2024

Literatur

Volker Kutscher veröffentlicht seinen letzten Rath-Roman

Dieser Band endet mit den November-Pogromen im Jahr 1938

von Christiane Laudage  04.11.2024