»Ein Nazi fährt nach Palästina«: Beim Auflösen der Wohnung seiner hochbetagt verstorbenen Großmutter in Tel Aviv stößt Arnon Goldfinger auf das Goebbels-Blatt »Der Angriff« mit dieser grotesken Schlagzeile. Er geht der Sache nach und entdeckt eine aberwitzige Geschichte. Seine Großeltern hatten diesen Nazi begleitet, waren seit den 1930er-Jahren mit ihm und seiner Frau befreundet. Auch als sie schweren Herzens vor dem antisemitischen Terror aus Deutschland flohen, rissen die Bande nicht ab.
Goldfinger ist überrascht und verblüfft. Von dieser Freundschaft hatte er nie gewusst. Seine Verwunderung und seine Fassungslosigkeit nehmen im Laufe seiner Recherchen noch zu. Denn der Nationalsozialist namens Leopold von Milden- stein war nicht irgendwer, sondern ein SS-Offizier und Vorgänger von Adolf Eichmann im »Judenreferat« des Reichssicherheitshauptamts.
treudeutsch Der Zuschauer von Arnon Goldfingers Die Wohnung erlebt quasi in Echtzeit das Verblüffen und Erstaunen des Regisseurs. Der Film ist eine unmittelbare Dokumentation seiner Archivgänge und Gespräche, etwa wenn er mit der Tochter von Mildensteins spricht oder Freunde seiner Großeltern befragt.
Der Großvater, Kurt Tuchler, war in Deutschland Richter gewesen, hatte als glühender Patriot im Ersten Weltkrieg gekämpft und war mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. In Israel wurden er und seine Frau nie wirklich heimisch. Nie hatten sie Iwrit gelernt, waren »in der Seele deutsch« geblieben, wie sich eine Freundin erinnert. Ihre Tel Aviver Wohnung sah aus, als ob sie im Berlin der 30er-Jahre stünde.
Behutsam entfaltet Goldfinger dieses Stück Familiengeschichte, das mehr ist als nur das. Aus einem sehr persönlichen Blickwinkel erzählt der Film, der diese Woche in den deutschen Kinos anläuft, von der Tragödie des deutschen Judentums. Auf einer zweiten Ebene zeigt er das Dilemma der zweiten und dritten Generation nach der Schoa.
Immer wieder stößt der nach Antworten suchende Regisseur auf Schulterzucken bei seiner Mutter. Es ist kein willentliches Schweigen, sondern schlichtes Nichtwissen. Sie hat ihre Eltern über die Schoa und ihre persönlichen Erfahrungen einfach nicht gefragt. Sie weiß kaum etwas über diesen Lebensaspekt der Familie – und wollte auch nie davon wissen: »Was zählt, ist die Gegenwart.«
ahnungslos Ebenso ahnungslos ist von Mildensteins Tochter, die glaubt, dass ihr Vater kein »richtiger« Nazi war. Wie Goldfinger herausarbeitet, war Leopold von Mildenstein ganz und gar nicht der harmlose Deutsche, als der er sich später darstellte, ein Sympathisant des Zionismus, der mit den Nazis wenig am Hut hatte.
Und ganz nebenbei wirft der Film auch ein interessantes Schlaglicht auf das wenig bekannte Haavara- (Transfer-)Abkommen zwischen Hitler-Deutschland und der Zionistischen Weltorganisation, dass die Auswanderung von deutschen Juden nach Palästina fördern sollte.
Täter wie Opfer der Schoa haben vielfach das, was geschah, verdrängt. Auch ihre Kinder wollten oder konnten oftmals nicht damit umgehen. Erst die dritte Generation widmet sich jetzt der Geschichte – aus dem Abstand der Nachgeborenen. Arnon Goldfinger hat fünf Jahre an seinem Film gearbeitet, behutsam ein Puzzle aus vielen Teilen zusammengesetzt.
Die Wohnung ist in ruhigem Ton und warmen Bildern gehalten, gefühlvoll und sachlich zugleich. Es geht nie um Abrechnung oder Schuldzuweisungen. Der Film will das Unfassbare verstehen und lässt den Zu-schauer bei diesem Versuch mitmachen. Diese Erzählweise macht Die Wohnung zu einer intensiven Filmerfahrung wie zu einem wichtigen Dokument der jüdischen und deutschen Geschichte.