Herr Shoham, in Ihren Thrillern beschreiben Sie die Schattenseiten des israelischen Justizsystems. Gab es schon Beschwerden, dass Sie das Image Ihrer Heimat ramponieren?
Nur ganz wenige. Ich versuche ja auch, fair über das israelische Justizsystem zu schreiben – dazu gehören seine Vorzüge und seine Nachteile. Was das Image Israels betrifft: Leider ist es zurzeit ohnehin nicht besonders gut. Aber beim Schreiben habe ich nicht daran gedacht, wie sich meine Story darauf auswirken könnte.
Ihre Figuren kämpfen nicht nur mit der Justiz, sondern auch mit sozialer Ungerechtigkeit: Der Arbeitsdruck wächst, die Mieten steigen, Reiche werden immer reicher. Sehen Sie das genauso?
Ja. Und nicht nur ich. Soziale Gerechtigkeit ist im vergangenen Jahr in Israel ein sehr großes Thema in der Öffentlichkeit geworden. Es gibt ein stark verbreitetes Gefühl, dass wir alle mehr arbeiten und weniger verdienen. Und eine bestimmte Gruppe profitiert sogar davon. Im Sommer 2012 gab es bei uns eine riesige Demonstration über die Höhe der Steuersätze, die Lebenshaltungskosten und soziale Gerechtigkeit. Das hat mich wohl beim Schreiben beeinflusst.
Verglichen mit anderen internationalen Thriller-Autoren setzen Sie kaum auf Action. Warum?
Ich glaube, dass man nicht große Waffen und laute Explosionen braucht, um Spannung zu erzeugen. Die Figuren in meinen Büchern sind aus Fleisch und Blut, sie haben einen Körper und eine Seele, ein Gesicht und einen Charakter, und ihre Gefühle sind echt. Sie müssen sich durch eine Tragödie aus vielen Rückschlägen bewegen, was meine Leser hoffentlich in einen Zustand permanenter Anspannung versetzt. Bei der Lektüre sollen sie sich immer wieder fragen, was denn nun die Wahrheit ist und mitfiebern. Meiner Meinung nach liegt darin echte Spannung – und nicht in Action.
Eine Autobombe gibt es dennoch in Ihrem neuen Thriller.
Das liegt wohl daran, dass ich als Kind erlebt habe, wie das Auto eines Mitarbeiters meines Vaters explodierte – nur zwei Blocks von unserem Haus entfernt. Allerdings nicht in Israel, sondern in Paris, wo mein Vater an der Israelischen Botschaft arbeitete. In unserem letzten Jahr dort gab es einige Terroranschläge auf israelische Ziele. Der Vater eines guten Freundes von mir wurde auf der Straße vor seiner Familie erschossen – er arbeitete für den Mossad. Ich war damals elf Jahre alt.
Ähnlich wie Patricia Highsmith oder Alfred Hitchcock erzählen Sie Ihre Geschichten aus der Perspektive gewöhnlicher Menschen, die zwischen die Fronten geraten. Was reizt Sie daran?
Ich glaube, dass ich über die Darstellung der Schwäche des Einzelnen erst richtig gut zeigen kann, wie mächtig die Systeme wirklich sind. Hier der kleine Mann, dort die starke Justiz, die Polizei, die Medien, die Unterwelt – diese Perspektive liegt mir. Kein Wunder, dass ich auch Highsmith und Hitchcock verehre. Aber die konkrete Idee zu »Tag der Vergeltung« kam mir, als ich im Fernsehen eine Folge der US-Krimiserie »The Wire« sah. Darin wurde eine Kriminalgeschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählt: Opfer, Täter, Angehörige, Polizisten, Staatsanwälte, Verteidiger, alle kamen zu Wort. Und das gefiel mir so gut, dass ich es ähnlich machen wollte.
Basiert »Tag der Vergeltung« auf einem wahren Fall?
Ja, zumindest der Beginn ist real: Der Vater einer jungen Frau, die Opfer einer Vergewaltigung geworden war, versteckt sich vor ihrer Wohnung. Er beobachtet einen verdächtigen Mann und ist davon überzeugt, dass es sich um den Vergewaltiger handelt. Das meldet er der Polizei und sorgt damit für eine Verkettung von Umständen, die er sich niemals hätte vorstellen können: Der Mann wird verurteilt, obwohl er unschuldig ist.
Wie kommt es dazu?
Viele Faktoren spielen eine Rolle: Die Deals zwischen Verteidigern und Staatsanwälten, der Druck der Medien, die Verflechtungen zwischen Politik, Unterwelt, Polizei und Justiz. Weltweit werden immer wieder Unschuldige verurteilt, auch bei uns. Zwar gibt es in Israel keine Jury-Entscheidungen bei Prozessen, aber trotzdem werden ab und zu Fehlurteile aufgedeckt. Ich glaube, dass auch bei vielen anderen Fällen die Wahrheit nie ans Licht kommt. Wie das passieren kann, versuche ich in meinen Büchern zu zeigen.
Das klingt nach investigativem Journalismus.
Ich bin zwar nicht so gut wie ein investigativer Journalist, wollte aber in der Tat hinter die Kulissen des Gerichtssystems blicken. Ich spreche bei meinen Recherchen regelmäßig mit Polizisten und fahre Streife mit ihnen. Außerdem befrage ich Staatsanwälte, Verteidiger, Sozialarbeiter und Richter. Für »Tag der Vergeltung« habe ich auch eng mit einem Profiler gearbeitet. Wer meinen neuen Roman liest, bekommt nicht nur einen spannenden Plot, sondern auch Einblick in die Art und Weise, wie für Gerechtigkeit gesorgt wird. Und da das Gerichtssystem einen sehr großen Einfluss auf unser Leben hat, besitzt dieses Thema eine grundsätzliche Relevanz.
Wie reagieren Ihre Kollegen bei Gericht auf Ihre Bücher?
Eigentlich sehr positiv. Ich werde oft eingeladen, um Vorträge vor Richtern und Anwälten zu halten. Da meine Romane sehr realistisch sind, erregen sie in juristischen Kreisen Aufsehen.
Der israelisch-palästinensische Konflikt spielt nur eine Nebenrolle in Ihrem neuen Roman. Schreiben Sie lieber über den Alltag der Israelis?
Ja, denn wenn man etwas über Israel hört oder sieht, hat es fast immer mit dem arabisch-israelischen Konflikt zu tun. Dieser Konflikt hat natürlich auch starke, direkte Auswirkungen auf unser tägliches Leben. Aber der Alltag in Israel hat nicht nur diese eine Facette.
Sie schildern auch sehr kritisch die Rolle der Medien bei einem Kriminalfall, zwischen Aufklärung und Meinungsmache. Dieses Thema scheint Sie zu beschäftigen.
Das stimmt. Die Medien machen gerade eine schwere Zeit durch. Zeitungen werden geschlossen, und es gibt immer mehr Budgetkürzungen innerhalb der Redaktionen. Eine der Folgen ist, dass das Alter der Journalisten konstant fällt und die Konkurrenz immer härter wird. Boulevardzeitungen suchen händeringend nach neuen Storys und machen Druck – was in meiner Geschichte auch ein Grund ist, warum die Hauptfigur unschuldig verurteilt wird. Außerdem wird in meinem Buch ein Gangster verhaftet, um die Medienmeinung und die Stimmung in der Bevölkerung zu kippen. Damit will ich zeigen, wie alles miteinander verbunden ist.
Welchen Stellenwert haben Thriller in Israel?
Dieses Genre wurde lange als nicht seriös und ernst genug betrachtet für ein Land, das ums Überleben kämpft. Mit der Folge, dass es nicht viele Thrillerautoren bei uns gibt. Aber in den letzten zehn Jahren hat sich einiges verändert. Inzwischen ist Kriminalliteratur bei Lesern und Kritikern sehr populär. Vielleicht sind wir ja doch auf einem guten Weg, ein ganz normales Land zu werden.
Sind Ihre Bücher auch in den Palästinensergebieten erhältlich?
Nein, leider nicht. Aber eines Tages werden sie vielleicht ins Arabische übersetzt. Wie die Dinge momentan stehen, bin ich aber nicht optimistisch, dass dies in naher Zukunft geschehen wird.
Mit dem israelischen Autor sprach Günter Keil.
Liad Shoham studierte an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie an der London School of Economics. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Tel Aviv.