Wolfgang Benz, ehemals Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU Berlin, sieht eine Gefahr am Horizont. »Fanatiker« sowie »nörgelnde Kritiker« würden einen »Feldzug« gegen renommierte Wissenschaftler führen, allen voran den früheren Leiter des Jüdischen Museums in Berlin, Peter Schäfer, sowie den Postkolonialismus-Theoretiker Achille Mbembe.
»Außerdem sind Aktivisten auf den Plan getreten, deren Eifer im Aufspüren, Brandmarken, Verfolgen und Unschädlichmachen von Antisemitismus und Antisemiten nicht immer mit Sachkunde einhergeht.« Genau deswegen haben er und 14 weitere Autoren sich in einem neuen Sammelband zusammengetan, um die Probleme in der Debatte endlich beim Namen nennen zu können.
MOBBING Das klingt erst einmal sehr spannend, vor allem deshalb, weil Benz sowie einige der anderen Autoren wie Juliane Wetzel oder Micha Brumlik durchaus im Ruf stehen, Fachleute auf diesem Gebiet zu sein. Doch nach wenigen Seiten bereits stellt sich bei der Lektüre ein mulmiges Gefühl ein. »Wenn selbst Schüler, die auf dem Schulhof ihre Mitschüler mit ›Du Jude‹ beschimpfen, als Antisemiten tituliert werden, dann läuft etwas ziemlich schief«, erklärt beispielsweise Juliane Wetzel vom ZfA.
Jüdische Schüler, die entsprechend gemobbt wurden, dürften das wohl anders sehen. Doch das hat für die Expertin keinerlei Relevanz: »Selbst betroffen zu sein, ist nicht gleichzeitig auch eine Gewähr dafür, die Situation nüchtern einschätzen zu können. Es ist nicht notwendig, einer Minderheit anzugehören, um die Bedrohungslage und das Diskriminierungspotenzial zu bewerten.«
Die mangelnde Empathie gegenüber den Opfern judenfeindlicher Übergriffe ist noch das geringste Problem.
Diese wenigen Sätze offenbaren bereits die zentralen Defizite, an denen das Buch leidet, wobei die mangelnde Empathie gegenüber den Opfern judenfeindlicher Übergriffe, die sich in diesen Zeilen zeigt, noch das geringste Problem ist. Viel schwerer wiegt die Tatsache, dass sich die Autoren weigern, Antisemitismus überhaupt als Begriff zu definieren.
Und das aus gutem Grund. Denn es beschäftigt sie etwas ganz anderes, und das ist die Islamophobie, die als das eigentliche große gesellschaftliche Problem immer wieder genannt wird. Vor allem Benz insistiert darauf, Äpfel mit Birnen vergleichen zu dürfen, also den Versuch, die ideengeschichtlichen Hintergründe des Hasses auf Muslime mit denen, die für die Feindschaft gegen Juden verantwortlich sind, in einen Kontext zu setzen. Begriffsdefinitionen können da nur hinderlich sein.
VERHARMLOSUNG Oder man betreibt Verharmlosung, so wie Michael Kohlstruck, ebenfalls vom ZfA. Er bezeichnet die Prügelattacke von 2018 auf einen Kippaträger in Berlin lieber als »jungmännertypisches Macht- und Selbstdarstellungsgebaren im politischen Kontext des Nahostkonflikts«, weil das »differenzierter« sei, als direkt von Antisemitismus zu sprechen.
Ärgerlich sind ebenfalls eklatante Fehler. So schreibt Daniel Bax, dass nicht einmal die Hälfte der »schätzungsweise 120.000 Menschen jüdischer Herkunft« Mitglieder jüdischer Gemeinden seien, weshalb der Zentralrat der Juden in Deutschland nur bedingt für die »jüdischen Perspektiven« stehe. Ein Blick in die Statistiken hätte ihn da eines Besseren belehrt. Und so entsteht der Eindruck, dass die Autoren eine ganz eigene Agenda haben: Sie wollen die Lufthoheit in den Diskussionen über Antisemitismus. Und das mit allen Mitteln. Auch mit dem Herunterspielen des Phänomens.
Wolfgang Benz (Hrsg.): »Streitfall Antisemitismus – Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen«. Metropol, Berlin 2020, 328 S., 24 €