Ein unscheinbares Archiv brachte es ans Licht: Vor einigen Jahren fand die amerikanische Historikerin Deborah Hertz in einem Kirchenarchiv ein Aktenkonvolut – Regale, vollgestellt mit Karteikartenordnern. Der archivalische Schatz des Evangelischen Zentralarchivs in der Berliner Jebenstraße entpuppte sich als Ergebnis eines gewaltigen genealogischen Forschungsprojekts der Nationalsozialisten – die sogenannte »Judenkartei«.
Die Ordner schienen jeden einzelnen Juden zu enthalten, der zwischen 1645 und 1833 Protestant geworden war. Die Karteikarten waren von Pfarrern erstellt worden. Diese vom NS-Staat bezahlten kirchlichen Ahnenforscher sollten etwas Grundlegendes finden – das, was die Nazis als Rasse bezeichneten. Pro Woche füllten die »Verkartungstruppen« 50.000 Karten für eine gesonderte »Fremdstämmigenkartei« aus. Bis 1937 hatten sie mehr als eine Million Taufen und Konversionen registriert.
Da die Nazis eine ausgeprägte Leidenschaft für Rasse und Genealogie hegten, war klar, dass man ein solch wichtiges Klassifizierungsprojekt nicht allein kirchlichen Amtsträgern überlassen durfte, wie beflissen diese auch sein mochten. Der NS-Staat sah sich genötigt, die Aufgabe zu überwachen. Besessen von der Idee der Reinhaltung der arischen Rasse übernahm die »Reichsstelle für Sippenforschung« (ab 1940 »Reichssippenamt«) die Prüfung des rassischen Erbes. Die NS-Rassewächter interessierten sich lebhaft für die mehreren hunderttausend Personen, deren Stammbäume nicht rein arisch waren.
Was die jüdischen Geburts- und Heiratsurkunden betraf, so waren diese im 1906 gegründeten Gesamtarchiv der deutschen Juden erfasst, ein Archiv, das von Jacob Jacobsen geleitet wurde. Um an diese jüdischen Personenstandsdaten zu kommen, wurde das Archiv in die Mobilisierung der NS-Ahnenforschung eingespannt. Den Archivar Jacobsen verschleppten die Nazis nach Theresienstadt, und an den Schreibtischen im Dachgeschoss des Archivs nahmen Nazi-Rasseexperten Platz. Die Archivräume im jüdischen Gemeindezentrum in der Oranienburger Straße im Herzen des alten jüdischen Viertels von Berlin waren mit einem Mal zu einer Nebenstelle des Reichssippenamtes geworden. Eine schauderhafte Symbolik – »Reichssippenamt, Oranienburgerstr. 28«!
assimilation In Deutschland zu leben, empfanden viele Juden von jeher als Privileg. Aber in Dankbarkeit zu dem jüdischen Gott zu beten, war nicht die einzige Alternative für jene, die sich glücklich schätzten, in diesem Land zu leben. Drei Optionen standen den Juden offen: Sie konnten traditionell bleiben, sich der harmonischen Modernisierung verschreiben oder versuchen, dem Judentum durch Taufe ganz zu entkommen. Tausende Juden in allen deutschen Ländern entschieden sich im 19. Jahrhundert nicht für den jüdischen Gott, sondern für ein Leben als Protestanten oder Katholiken.
Doch damals wie heute waren nur wenige Beobachter überzeugt davon, dass jene, die die Taufe wählten, dies aufgrund spiritueller Erfahrungen taten. Der Verdacht drängt sich auf, dass die Motive entweder im Wunsch nach beruflichem Aufstieg lagen oder romantischer Natur waren, weil »Mischehen« erst später im 19. Jahrhundert gesetzlich zulässig waren. Die Personen, denen Hertz bei ihren Recherchen begegnete, hatten einen weiten Weg zurückgelegt, um einen gesicherten Platz in der tonangebenden Gesellschaft zu finden. Es war ihr mehr oder weniger freiwilliger Schritt – sie wollten ihre Assimilation, die bürgerliche Gleichstellung, die sie in geradezu messianischer Erwartung ersehnten.
In Hertz’ elegant geschriebenem Buch begegnen dem Leser viele Konvertiten, deren Motive tatsächlich zu den bekannten Stereotypen passen – sie strebten angesehene Berufslaufbahnen oder Ehen mit christlichen Partnern an. Ihren Weg kreuzen aber auch andere, deren Übertritt kulturellen und nationalen Motiven entsprang. Gut betuchte, gebildete Juden betrachteten die christliche Identität oft als einen Weg, um »innerlich deutscher« zu werden – die Börnes, Heines, Mendelssohn-Bartholdys und all die anderen. Indes entzog die Taufe der jüdischen Welt viele ihrer Besten und Klügsten. Mit Rücksicht auf die Familie versagten sich viele Juden einen Religionswechsel, auch war es eine Frage der Selbstach- tung, die sie hinderte, diesen Schritt zu tun.
Für Heinrich Heine war die Taufe das »Entréebillet« in die europäische Kultur. Er löste die Eintrittskarte, dennoch blieb ihm die erhoffte Professur versagt. »Ich bin getauft«, räumte er in der ihm eigenen spitzfindigen Dialektik ein, »aber ich bin nicht bekehrt«. Der Übertritt selbst habe nicht wehgetan, witzelte Heine, sich einen Zahn ziehen zu lassen, sei viel schmerzhafter.
Emanzipation Im frühen 19. Jahrhundert standen die meisten Taufkritiker treu zum traditionellen Judentum. In der Ära von Freud waren manche psychologischen Beobachter davon überzeugt, dass Taufwillige »manifest krank« seien. Ein Kritiker behauptete, jüdische Konvertiten trügen »waschechte Taufwasserköpfe«.
Gewiss waren die jüdischen Konvertiten nicht prototypisch für alle jüdischen Deutschen in der Neuzeit. Mit der Taufe waren die wenigsten Juden im Reinen, und genutzt hat sie ihnen nur scheinbar. Die verworrenen antisemitischen Gedankengänge ließen nicht zu, dass Juden zu gleichberechtigten Staatsbürgern wurden.
Hertz’ Buch hat ein doppeltes Anliegen: Einerseits will die Autorin die Konvertiten rückwirkend dem Zugriff des NS-Systems entreißen, andererseits will sie diskutieren, wie vernünftig die Konversion vor Beginn der Nazizeit möglicherweise war. Die Betroffenen konnten nicht warten, bis die Geschichte ihnen die Emanzipation brachte.
Deborah Hertz: Wie Juden Deutsche wurden. Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Campus, Frankfurt/New York 2010, 350 S., 34,90 €