Ein in rot getauchter Vogel fliegt über eine Gruppe von Holzhäusern. Im Vordergrund stehen ein Vater und ein Sohn, die ineinandergeschlungen von zwei Menschengruppen umsäumt werden. Tiere blicken auf die beiden, die sich so eng umarmen, dass der Eindruck entsteht, sie hätten sich lange Zeit nicht mehr gesehen.
»Der verlorene Sohn« heißt das Werk. Von 1975 oder 1976 stammt es. Es zeigt aber nicht die Szene in der Bibel, die Rückkehr des verlorenen Sohnes aus dem Neuen Testament, durch die das Motiv in die europäische Kulturgeschichte eingegangen ist. Nein, an einem Detail ist besonders zu erkennen, dass sich der Betrachter nicht im antiken Judäa, sondern in einem osteuropäischen Dorf befindet: an der Kirche, die mit ihrer blauen Kuppel aus dem Dorf herausragt.
»Dunkle Seite« seiner Werke
Der Künstler ist Marc Chagall, und »der verlorene Sohn« ist eines der zahlreichen Werke, die ab Samstag in der K20 Kunstsammlung des Landes Nordrhein-Westfalen präsentiert werden. Besonders die »dunkle Seite« seiner Werke ist in den rund 120 Exponaten in Düsseldorf zu sehen. »Der verlorene Sohn« ist eines von ihnen. Jesus diente Chagall als Vorbild und biografischer Anknüpfungspunkt: »Christus, der
gekreuzigte Jude, wird zum Sinnbild des Leidens«, wie es in der Ausstellung heißt.
Dunkel, das sind zum einen die Farben, die in seinen Gemälden mit intensiven Rot-, Blau- und Grüntönen kontrastiert werden. Zum Beispiel in seinem Werk »Golgotha (die Kreuzigung)« von 1912. Chagall spielt mit dem Motiv auf die Todesgeschichte von Jesus an. Denn der Gottessohn wurde der Bibel nach auf dem Hügel Golgotha hingerichtet. Den in blau gefärbten Gekreuzigten taucht Chagall in dem ausgestellten Stück in einen rabenschwarzen Hintergrund, der so dunkel ist, dass er an die Schwärze des Weltalls erinnert. Es ist nur eines der »dunkleren« Exponate, die aus der Zeit von 1909 bis in den 1980er Jahre stammen.
Dorfleben im Zarenreich
Dunkel, in einem übertragenden Sinne, das sind auch die Themen, die in den gezeigten Werken zum Ausdruck kommen. Dazu sagt die Kuratorin der Ausstellung, Susanne Meyer-Büser: »Es wird sich geprügelt, sich übergeben, uriniert, prostituiert, gebettelt.« Viele von Chagals Bildern zeigen malerisch verarbeitete Erinnerungen aus seiner Kindheit im damals zum russischen Zarenreich gehörenden Witebsk, in dem die Dorfbewohner der harten Realität des nicht-elektrifizierten Landlebens ausgesetzt waren.
Marc Chagall war Jude, wuchs in einem Dorf des Zarenreiches auf, migrierte nach Frankreich und New York.
Die Gemälde in Düsseldorf zeigen auch die Erfahrung von Antisemitismus und Gewalt, die die jüdischen Bewohner – etwa die Hälfte der Witebsker waren zur Kindheit Chagalls Juden – erlebten. Ein anderes Gemälde spiegelt die dunkle Seite der traditionellen Geschlechterordnung in dem Ort wider.
Die Geburt einer Frau
In »Die Geburt« von 1910 ist eine Frau zu sehen, die ein Kind zur Welt gebracht hat. Das Neugeborene ist blutüberströmt und wird von einer anderen grimmig schauenden Frau in den Händen getragen. Es ist eines der Werke, die in Düsseldorf Einblick geben in Chagalls Wahrnehmung einer Geschlechterwelt, die von traditionellen Rollenbildern geprägt ist – ein aktuelles Thema, das auch in der Ausstellung zum Tragen kommt und sie deshalb so aktuell macht.
»Es sind ›die großen Themen des Lebens‹ – von Geburt und Mutterschaft, von Liebe und Liebenden, vom Zirkus als Sinnbild für das Leben sowie von Verlust und Tod«, schreibt die Kunsthistorikerin Gisela Kirpicsenko in dem 248-seitigen Ausstellungsband, der mit Texten und ausgewählten Exponaten der Schau den Zugang zu dem russisch-französischen Künstler begleitet. Untermalt wird die Ausstellung von einem Audio-Guide, auf den kostenlos über das Handy zugegriffen werden kann, sowie mehreren erklärenden Texten, die durch die Ausstellung führen.
Mehrere Identitäten
Marc Chagall war Jude, wuchs in einem Dorf des Zarenreiches auf, migrierte nach Frankreich und New York. Beim Gang durch die Ausstellung scheint es, als wären diese zum Teil widersprüchlichen Identitäten der Motor seines Schaffens – schwarz, weiß, bunt, aber niemals einseitig oder gar eindeutig. Einen eigenen Zugang zu diesen Widersprüchen zu finden, macht die Ausstellung so besuchenswert.