Letzten Freitagnachmittag stand ich unter der Dusche, und als ich mir gerade die Haare waschen wollte, griff ich mir an den Kopf und musste feststellen: Ich hatte schon wieder vergessen, die Kippa abzusetzen, bevor ich ins Bad ging. Das ist furchtbar nervig, die Kippa wasche ich lieber in der Waschmaschine und nicht mit Shampoo. Aber die Kippa gehört zu meinem Hinterkopf fast so wie die Haare darunter, da kann so etwas schon mal passieren.
Und offenbar ist die Kippa auch für Bildredakteur:innen in Deutschland ein so selbstverständliches Accessoire, dass auch sie regelmäßig vergessen, sie abzunehmen, wenn sie Artikel zu jüdischen Themen bebildern müssen.
Medium Um es ganz deutlich zu sagen: Wenn ich und viele andere Jüd:innen mal wieder einen Beitrag in einem deutschsprachigen Medium sehen, bebildert mit einem von einer Kippa bedeckten, männlichen Hinterkopf, dann seufzen wir kurz. Und ärgern uns auch ein wenig.
Dieses im Grunde unschuldige Bild ist trotz seiner Unschuld problematisch. Die meisten Menschen in Deutschland haben noch nie im Leben bewusst einen Juden getroffen. So in echt und persönlich. Ihr Bild vom Juden haben sie vor allem aus den Medien, und da sind Juden viel zu oft männlich, gesichtslos und religiös.
Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Von den geschätzt 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland sind etwa 100.000 in 104 Gemeinden als Mitglieder registriert. Von denen sind laut einer Studie aus dem Jahr 2020, dem »Gemeindebarometer« des Zentralrats der Juden in Deutschland, keine 15 Prozent »observant«.
Wenn man davon ausgeht, dass rund die Hälfte von ihnen Männer sind, sind sieben Prozent der organisierten Juden potenzielle Kippaträger. Das sind keine drei Prozent aller Juden in Deutschland. Und auch die zeigen ihre Kippa aufgrund der vielen antisemitischen Anfeindungen selten auf der Straße.
vielfalt Die Medien in Deutschland ignorieren also viel zu oft etwa 97 Prozent aller Juden in der Bebilderung von Artikeln über Judentum in diesem Land. Doch das jüdische Leben in Deutschland ist vielfältig; trotz der kleinen Gemeinschaft gibt es fast alle denkbaren Schattierungen. Es gibt LGBTQ-Juden, atheistische Juden, ultraorthodoxe, traditionelle, kulturelle und auch völlig agnostische Juden. Es gibt Zionisten und Antizionisten, politisch rechts und links, ja, es gibt sogar antisemitische Juden. Diese Menschen kann man nicht auf einen Hinterkopf reduzieren.
Der Deutsche Bundestag beging am 27. Januar eine Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus und lud Charlotte Knobloch und Marina Weisband ein, vor der Regierung und den Abgeordneten zu sprechen. Zwei Frauen, die keine Kippa tragen und deutschen Juden ihr Gesicht geben. In diesem Jahr feiert Deutschland auch »1700 Jahre jüdisches Leben« in diesen Breitengraden, und diese beiden Frauen repräsentieren die zwei wichtigsten, heute in Deutschland lebenden Generationen an Juden: die Überlebenden der Schoa und die Generation der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.
zuwanderer Erstere haben den Glauben an Deutschland trotz allem nicht verloren und angefangen, jüdisches Leben wiederaufzubauen; Letztere glaubten an eine Zukunft in Deutschland für sich und ihre Familien. Und sie sind tatsächlich die Zukunft jüdischen Lebens hier geworden. Eines Lebens, das seine jüdische Identität in Deutschland wiederentdeckt und neu entwickelt, da sie in der Sowjetunion so brutal unterdrückt wurde. Die Wurzeln, die Charlotte Knoblochs Generation gepflanzt hat, treiben vor allem dank der Generation von Marina Weisband Äste und Blüten.
Deutsche Juden sprechen meistens Deutsch, kleiden sich großteils wie alle anderen auch, und die meisten essen dasselbe deutsche Essen. Deutsche religiöse Juden, die Jeckes, haben die Perücke für Frauen eingeführt, verstecken die Zizit in den Hosen und kleiden sich in Anzügen, um sich zu integrieren und bloß nicht aufzufallen. Nach der Schoa gab es zwar kaum noch deutsche Juden, aber auch die heutigen, die größtenteils aus der ehemaligen Sowjetunion kommen, sehen meist aus wie die Mehrheitsgesellschaft.
Mühe Für Bildredakteure in Deutschland ist es also nicht so einfach, ihren Job zu machen. Aber es ist ihr Job, und sie müssen sich einfach mehr Mühe geben. Es ist genauso auch der Job von nichtjüdischen Journalisten, sich mit der nötigen Sensibilität auf diese Bandbreite an jüdischem Leben einzustellen, wenn sie darüber berichten, und nicht etwa mit einem Block und Stift bewaffnet einen Jom-Kippur-Gottesdienst besuchen, wie in Halle geschehen.
1700 Jahre Judentum in Deutschland wird hoffentlich ein großes Medienecho erzeugen. Ich wünsche mir, dass dieses Jahr mit vielfältigen Geschichten, aber nicht mit 1700 männlichgesichtslosbekippaten Hinterköpfen als Bebilderung medial begleitet wird.
Der Autor lebt in Israel und ist Verfasser des Buches »Wie werde ich Jude? Und wenn ja, warum?«.