Wenn er über sein Buch spricht, das er schnörkellos Samuels Buch genannt hat, fängt Samuel Finzi immer wieder an zu lachen. Der gefeierte Schauspieler scheint sich fast ein wenig zu wundern, dass gerade seine 224 Seiten starke Autobiografie erschienen ist und Menschen sie sogar lesen wollen.
Seine Idee sei es nicht gewesen, versichert er gern in Interviews, schließlich sei er Schauspieler und nicht Autor. Aber unter anderem Maxim Biller habe ihn zum Schreiben angetrieben, und dann habe er es halt versucht. Schulterzucken. Also sollten wir Maxim Biller danken, denn, und das haben wir jetzt schwarz auf weiß, Samuel Finzi kann nicht nur auf Bühnen und in Film und Fernsehen Welten schaffen, schreiben kann er sie auch.
KINDHEIT Gleich auf Seite eins, mit dem sechsten Satz, stürzt er die Leserschaft kopfüber in seine Kindheit im Bulgarien der 70er-Jahre, wo er als Sohn eines berühmten Paares, der Pianistin Gina Tabakova und des Schauspielers Itzhak Finzi, aufwuchs, bis er seine Zukunft in Paris suchte und sie in Berlin fand. Da war Finzi 23. Das Buch endet mit dem Neuanfang im Westen – und es verweigert sich so angenehm wie komplett dem Genre Celebrity-Geschichtchen.
Kindheitserinnerungen authentisch aufzuschreiben – das gehört zu den schwierigsten der schriftstellerischen Disziplinen, doch Finzi meistert sie mit beneidenswerter Leichtigkeit. Sofort ist man drin in der Bohème-Wohnung der Eltern, wo der Vater mehr oder weniger nützliche Möbel und Gadgets improvisiert, während er seine Schauspielkunst dazu nutzt, die Wahrheit über das herrschende System auszusprechen. Sofort ist man Teil der Kindertruppe, die den Ferienort der Erwachsenen verunsichert.
Man riecht das Meer, fühlt die Hitze und das Brodeln der Hormone und zugleich die große Unsicherheit ob der eigenen Position im Großen und Ganzen. Man sitzt in der Schule, im Zug, im Kino, in das Finzi sich geschlichen hat, um Pasolinis Salò zu sehen. Man fühlt die Freude, die Wut und immer wieder das Staunen über die Welt und die Menschen in ihr. Vor allem aber spürt man das warme, weiche Netz aus Vertrauen und Liebe, das die Familie stellt. Welch Glück für ein Kind!
LIEBESERKLÄRUNG Mit Samuels Buch hat Finzi eine Liebeserklärung an seine Eltern und Großeltern geschrieben, an schräge Onkel, Tanten, Freunde und Bekannte der Familie, die mit Kinderaugen betrachtet ziemlich gerade dastehen dürfen, weil sie einfach nur so sind, wie sie sind. Diese Charakter-Miniaturen nimmt man mit, wenn das Buch längst zu Ende ist.
Im interessierten Beobachterstil – Wertung gibt es kaum, die kommt schon vom Leser selbst – erfährt der Leser nicht nur, wie es Samuel Finzi und seiner weitverzweigten Familie ergangen ist, sondern auch, wie sich das Leben in einem sozialistischen Staat anfühlt, dass Antisemitismus zeit- und grenzenlos ist, wo Freiheit anfängt und wo sie aufhört. Der Ton ist dabei so sachlich, dass es zum Lachen und Weinen ist, manchmal beides gleichzeitig.
Finzi bleibt aber nie zu lang bei einer Szene, denn wer, wenn nicht er, weiß, dass alle Magie im Timing liegt. Es geht mal fein und präzise, mal sprunghaft und den eigenen Erinnerungen misstrauend, von Massenszenen zu intimen Einblicken, von der historischen Einordnung zur Nahaufnahme eines Sohnes, der seinen Vater vergöttert, der ihm mit rabbinischem Witz und Chuzpe die Welt zu Füßen legt, wenn diese zu bedrohlich wird.
Nein, Schnörkel brauchen diese Geschichten keine, die kommen ganz von allein, wenn das Kopfkino loslegt. Samuels Buch ist knapp, direkt und echt, so wie gutes Schauspiel eben sein muss.
Samuel Finzi: »Samuels Buch. Ein autobiografischer Roman«. Ullstein, Berlin 2023, 224 S., 22,99 €