Noch ist es Herbst. Aber in Hamburg wirbt das neben dem Rathaus gelegene Bucerius Kunst Forum großflächig mit einem winterlichen Motiv: Ein verschneites Sträßchen ist zu sehen, dazu Hausdächer, putzig weiß bedeckt. Ein Paar steht eng umschlungen an der Ecke und wärmt sich. »Über Witebsk« heißt das Bild und lädt in die große Ausstellung »Marc Chagall – Lebenslinien« ein, die am 8. Oktober eröffnet wurde.
Die Werkschau, die bis zum 18. Januar 2011 zu sehen sein wird, ist jetzt schon ein Erfolg. Die Besucher drängeln sich. Draußen auf dem Vorplatz ist eigens ein Kassenhäuschen aufgebaut, um den Strom der Interessierten, die ihre Eintrittskarte nicht online gebucht haben, in ruhige Bahnen zu lenken. Wer nicht warten will, greift zum teureren »Ticket mit Zeitfenster«. Wer zugleich mit dem Taxi vorfährt, und das muss wohl öfter vorkommen, kommt umsonst rein – wenn er den Fahrer mitnimmt.
standards Da traut man sich kaum die Frage zu stellen, ob noch eine Chagall-Ausstellung – die wievielte ist es eigentlich? – wirklich sein muss. Hat uns dieser Maler noch etwas Neues zu sagen? Seine symbiotischen Paare, seine Rabbis und Schtetlszenen, seine Fabelwesen aus Mensch, Pferd und Hahn sind längst zu Standards der klassischen Moderne geworden wie Franz Marcs Blaues Pferd oder Pablo Picassos Mädchen mit Taube. Man erkennt sie sofort, nickt wissend, mancher hat sie als Reproduktion zu Hause im Wohnzimmer oder über dem Bett hängen.
Aber vielleicht werden gerade deshalb die Bilder jetzt hier gezeigt. Das Bucerius Kunst Forum ist nicht gerade für sperrige oder gar kontroverse Ausstellungen mit Gegenwartsbezug bekannt. Man pflegt gediegene Schauen mit Kunst großer Männer, die oft schon lange tot sind und deren Werke nun wie unverrückbare Findlinge in der Kunstwelt herumstehen. Chagall ist großartig, ist es immer gewesen, wird es immer sein, lautet denn auch die Kernbotschaft des ausgelegten Informationsmaterials, bevor man die dunkelblau getönten Ausstellungsräume betritt, in denen sich die geführten Besuchergruppen leise flüsternd auf die Füße treten.
Wenn diese Werkschau dennoch wenigstens teilweise neue Pfade einzuschlagen versucht, ist das ihrem eigentlichen Ausrichter zu verdanken, dem Israel Museum Jerusalem, aus dessen Beständen die meisten Bilder stammen, ergänzt durch Leihgaben, vornehmlich aus der Schweiz und Frankreich. Und so finden sich inmitten sattsam bekannter Werke wie »Paar mit Ziege« oder »In der Dämmerung« plötzlich unbekanntere filigrane Zeichnungen und Radierungen: Illustrationen zu den Erinnerungsbüchern Brennende Lichter und Erste Begegnung von Chagalls Frau Bella, darunter Szenen aus den Kindertagen des Malers in seiner weißrussischen Heimatstadt Witebsk sowie eine überraschend freizügige Zeichnung, die Chagalls Geburt darstellt: der Künstler als properer Säugling, den es aus dem Mutterleib forsch in die Welt drängt. Wobei die Frage erlaubt sein muss, ob diese so frisch wirkenden, leicht hingeworfenen Skizzen ähnliches Interesse auslösen würden, wüsste man nicht, dass sie eben von Chagall sind.
Symbolrepertoire Was in dieser Ausstellung, wie in so vielen anderen Werkschauen großer, anerkannter Künstler vor allem fehlt, sind Vergleichsmöglichkeiten. Wie aktuell waren und wie anhaltend wirken Chagalls Bilder, in denen er etwa die Berichte über die Schoa und die ermordeten Juden seiner Geburtsstadt zu verarbeiten versuchte? Was und wie ist damals von anderen jüdischen Künstlern gemalt worden – etwa von Abel Pann, der gleichfalls aus Witebsk stammt? Auf welche Form- und Bildsprache griffen Chagalls Kollegen besonders nach 1945 zurück –und wie konfrontierend oder wohl eher harmonisierend verhalten sich dazu besonders die durchkalkuliert wirkenden Spätwerke Chagalls, in denen sich sein Symbolrepertoire zu wiederholen scheint?
Immerhin, es hätte schlimmer werden können. Das zeigt sich, betritt man den Museumsshop. Hier finden sich in Hülle und Fülle die zu Kitsch geronnenen Chagallmotive auf Postkarten, in Büchern und natürlich als Poster mit dem Namenszug des Künstlers in dicken, goldenen Buchstaben. Aber seien wir fair: Marc Chagall, der bis ins hohe Alter gut gelaunt an seiner Staffelei saß, kann dafür nichts.
Marc Chagall. Lebenslinien. Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, Hamburg, bis 18. Januar 2011
www.buceriuskunstforum.de