Vor 30 Jahren, am 18. Mai 1986, fand in der Berliner Philharmonie ein denkwürdiges Konzert statt: Der damals 82-jährige Vladimir Horowitz (1903–1989) spielte nach mehr als 50 Jahren zum ersten Mal wieder in der Stadt, in der seine große Karriere als Pianist begonnen hatte. Der in Kiew geborene jüdische Musiker war 1939 in die USA emigriert und hatte sich nach 1945 geweigert, jemals wieder nach Deutschland zu kommen.
Noch 1985 bekam Elmar Weingarten, Musikchef der Berliner Festspiele, eine kühle Abfuhr von Horowitz’ Manager Peter Gelb, als er nach einem Gastspiel des Jahrhundert-Pianisten fragte:
»Aussichtslos. Er wird niemals nach Deutschland fahren.« Trotzdem haben die Musikmanager dann zusammen einen Plan entwickelt, wie man Horowitz nach Berlin lotsen könnte. Er hatte Anfang der 30er-Jahre das letzte Mal in Deutschland gespielt.
Geheim Die Idee war, eine Tournee in die Städte zu organisieren, in denen er studiert hatte und in denen die Karriere des Musikers begann: Moskau, Leningrad, Hamburg und Berlin. Horowitz willigte ein, und die Planung konnte unter völliger Geheimhaltung beginnen. Erleichtert wurde sie dadurch, dass die Berliner Festwochen Konzerte unter dem Motto »Musik aus dem Exil« planten.
Die Tournee wurde ein großer Erfolg, in der Sowjetunion, in Hamburg, wo Horowitz auch schon vor 1933 gastiert hatte, und ganz besonders in Berlin. Hier hatte er unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter mit den Berliner Philharmonikern konzertiert und umjubelte Klavierabende gegeben. Im Vorverkauf waren nach zwei Stunden alle Karten bei Preisen bis 300 Deutsche Mark vergriffen, im Schwarzmarkt kletterten sie bis 600 D-Mark. Einige Hundert Tickets für 25 D-Mark aber waren für Studenten reserviert, darauf hatte Horowitz bestanden.
Alle Konzerte, die er im Alter gab, fanden am Nachmittag um 16 Uhr statt – der beste Termin für seinen Lebensrhythmus. So auch die Berliner Aufführung. Sie wurde live im Rundfunk übertragen, nicht zuletzt für die Musikfreunde in der DDR, Berlin war damals noch geteilt. Und Horowitz war derselbe wie zu Beginn seiner Karriere vor 60 Jahren – zugleich aber auch ein ganz anderer. Damals hatte er als Virtuose brilliert. Sein Prunkstück war das b-moll-Konzert von Tschaikowsky mit seinen wahnsinnigen Oktavgängen und Kadenzen. Nach einer Hamburger Aufführung schrieb ein Kritiker, der Flügel habe »wie ein erschlagener Drache« auf dem Boden gelegen.
Romantiker Im Laufe der Jahre wurde aus Horowitz ein Romantiker und Poet. Das zeigte auch sein Berliner Programm von 1986: Meist kleine Stücke von Domenico Scarlatti, Robert Schumann, Franz Liszt, Sergej Rachmaninow, Alexander Skrjabin, Frédéric Chopin und Moritz Moszkowski. Der Tastenlöwe von einst aber war in der As-Dur Polonaise op. 53 von Chopin, dem letzten Stück des Programms, noch deutlich zu spüren.
Norbert Ely, der die Konzertübertragung moderierte, fasste seine Erinnerungen so zusammen: »Ein paar Takte bei Rachmaninow, einige Gedanken bei Skrjabin haben für Momente den Blick geöffnet in eine andere Welt, die dem Sterblichen für gewöhnlich verschlossen bleibt.«
Horowitz war glücklich über das Konzert und besonders über die Begeisterung des Publikums. Beim Abendessen mit dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker fragte ihn seine Frau Wanda, die jüngste Tochter des Dirigenten Arturo Toscanini, warum er denn das Konzert nicht wiederhole. Horowitz sagte spontan zu, und tatsächlich war die Philharmonie am folgenden Samstagnachmittag noch frei. Auf der Speisekarte notierte er das zum Teil veränderte Programm.
Depressionen Warum wirkte Horowitz in Berlin so glücklich? Der am 1. Oktober 1903 in Kiew geborene Horowitz wurde durch die Oktoberrevolution in den Westen vertrieben. Er machte eine Weltkarriere, aber er fühlte sich immer wieder als Außenseiter, litt an Krankheiten und Depressionen, trat oft jahrelang nicht auf.
Der Musikhistoriker Jürgen Kesting meint, er habe in seinen späten Jahren ein neues Gefühl von Glück entdeckt, indem er seiner Kindheit nachspürte – damit allerdings auch dem Verlust: »Jene Kindlichkeit, mit welcher der alte Horowitz verblüffte, verzauberte und verstörte, war eine angenommene Kindlichkeit – eine tiefe, heiter-melancholische Versonnenheit, die, voller Sehnsucht und Trauer, dem Gewesenen nachlauscht.«
Diese heiter-melancholische Versonnenheit begann wohl bei der Tournee, die ihn 1986 nach Berlin führte. Sie gilt auch für Konzerte, die noch folgten, in London und Tokio, in Amsterdam und Wien, in Frankfurt am Main und noch einmal in Berlin. Am 5. November 1989 starb Vladimir Horowitz an einem Herzanfall in New York.