David Reich findet es gut, wenn Freunde, Familie und Fremde über seine Arbeit diskutieren, möglichst lebhaft, intensiv und gern auch kontrovers. Selbst wenn es um ein so heikles Thema wie den Begriff »Rasse« geht. »Es ist wichtig, darüber eine Debatte zu führen«, sagt er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Denn: »Als Wissenschaftler ist es unsere Aufgabe, aufzuklären und Orientierung zu geben.«
Kein Zufall also, dass Reich, Professor für Genetik an der Harvard-Universität, mit einem Essay in der »New York Times« einen Intellektuellenstreit ausgelöst hat. Die Erkenntnisse der genetischen Forschung hätten das Verständnis des Begriffs »Rasse« – Reich benutzt dafür stets Anführungsstriche – verändert. »Der Begriff ist historisch aufgeladen und wissenschaftlich unsauber«, erklärt er. »Rasse« sei ein soziales Konstrukt, das sich ständig wandle.
Zugleich kritisiert der Forscher allerdings eine, wie er es nennt, »weit verbreitete Orthodoxie«: Viele seiner Kollegen lehnten es kategorisch ab, über die Rolle der Kategorie »Rasse« in der Wissenschaft zu diskutieren – aus Angst, in die politisch inkorrekte Ecke gestellt zu werden.
Eugenik Doch wenn Forscher sich hinter einer Schweigemauer verschanzten, entstehe ein Vakuum. »Und das wird mit Vorurteilen, Stereotypen und Pseudowissenschaft gefüllt«, sagt Reich. Das habe die Geschichte immer wieder gezeigt, vor allem, aber nicht nur in Deutschland. Die Eugenik – auch als »Erbgesundheitslehre« bezeichnet – fand im frühen 20. Jahrhundert in ehemaligen Kolonialstaaten wie Großbritannien, aber auch in Einwanderungsländern wie Australien, Kanada und den USA Widerhall. Die sogenannte Rassenlehre der Nationalsozialisten leitete sich aus der Eugenik ab und diente zur Rechtfertigung für Massenmorde und Menschenversuche.
Reich betont: Die genetischen Unterschiede zwischen den Menschen seien zwar insgesamt sehr gering, zwischen Individuen ebenso wie zwischen Populationen. Dennoch gebe es sie, und die Genetik helfe dabei, sie zu verstehen. »Und manchmal korrelieren diese Unterschiede mit den Kategorien, die heute oft – und unglücklicherweise – mit dem Begriff ›Rasse‹ beschrieben werden«, erklärt Reich.
So ist seit Langem bekannt, dass zum Beispiel Afroamerikaner häufiger an Prostatakrebs erkranken als Weiße, dass Multiple Sklerose unter Weißen verbreiteter ist als unter Schwarzen und Latinos, und dass mehr jüdische als nichtjüdische Kinder mit dem Tay-Sachs-Syndrom, einer schweren Erbkrankheit, geboren werden. Die Antwort liegt in der DNA, und der Zusammenhang zwischen genetischer Prädisposition für bestimmte Krankheiten und der Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Population ist unter Wissenschaftlern wenig umstritten.
Diskriminierung Dennoch fühlten sich 67 Forscher aus aller Welt, von Medizinern über Genderwissenschaftler bis zu Juristen, von Reichs Ausführungen beunruhigt. So beunruhigt, dass sie einen offenen Brief schrieben. Statt Unterschiede zwischen biologischen »Rassen« zu betonen, sei es vielmehr notwendig, zu verstehen, wie die Gesundheit einzelner Bevölkerungsgruppen durch Rassismus und Diskriminierung beeinträchtigt werde, betonen die Forscher. »Das bedeutet nicht, dass genetische Unterschiede unwichtig sind, aber sie verlaufen nicht entlang der Linie von Rassen«, heißt es in dem Brief. »Die Geschichte hat uns gelehrt, wie das Studium genetischer Vielfalt missverstanden und missbraucht werden kann.«
Reich jedenfalls weiß, wovon er spricht, wenn er sich mit dem Begriff »Rasse« auseinandersetzt. Der 43-jährige Forscher ist der Sohn der Schriftstellerin Tova Reich und des Professors für Psychiatrie, Walter Reich, des ersten Direktors des Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. Reichs Vorfahren stammen aus dem früheren Westgalizien.
Sein Vater wurde während des Zweiten Weltkriegs in Rzeszów im Süden Polens geboren und kam 1948 als Flüchtling mit seinen Eltern in die USA. Reichs Großvater mütterlicherseits stammt aus Oswiecim, der Stadt Auschwitz, und konnte Ende der 30er-Jahre in die USA flüchten. Der Großteil von Reichs Familie kam indes im Holocaust ums Leben. »Mir ist sehr deutlich und tiefgreifend bewusst, wohin der Missbrauch von ideologisierten und pseudowissenschaftlichen Begriffen führen kann«, sagt Reich. Die Geschichte seiner eigenen Familie mache diese Erfahrung für ihn »sehr real«.
Risikofaktoren Reich studierte zunächst Soziologie, wechselte dann zur Medizin und schließlich zur Genetik. Die Genetik sei ein faszinierendes Instrument, um die Verbindung des einzelnen Menschen mit der Welt zu verstehen. »Aber als ich vor 20 Jahren studiert habe, war dieses Instrument noch ziemlich stumpf.« Deshalb widmete er sich zunächst der Medizin, forschte über genetische Risikofaktoren für Krankheiten.
Doch als Forscher Mitte der 2000er-Jahre das menschliche Genom vollständig sequenzierten, erschien es plötzlich möglich, Daten über die gesamte genetische Vielfalt der Menschen zu entschlüsseln. Reich interessierte sich vor allem für die Neandertaler und die erst vor wenigen Jahren entdeckten Denisovaner, die zeitgleich mit den Neandertalern und dem Homo sapiens lebten. Er sammelte Knochen von Zehntausende Jahre alten Individuen aus Asien, Afrika und Europa und sequenzierte deren Erbgut. Bis heute haben er und sein Team mehr als 4200 Genome entschlüsselt.
Das Ergebnis seiner Forschung über die historische DNA und den Fluss der Gene durch die Menschheitsgeschichte hat er jetzt in einem Buch veröffentlicht: Who We Are and How We Got Here (Wer wir sind und wie wir hierher kamen).
krimi Das Buch, in dem der Begriff »Rasse« übrigens kaum vorkommt, liest sich wie ein genetisch-genealogischer Krimi, und Reich schreibt in demselben Ton der bohrenden, bisweilen fast kindlich-schmerzfreien Neugierde, in dem er auch über seine Arbeit spricht. Sein Ziel ist es, eines Tages »eine Landkarte weltweiter genetischer Variationen zu erstellen, eine Art genetischen Atlas der Menschheit«, der Lebenden und ihrer Vorfahren.
Die wohl wichtige Erkenntnis seiner Forschung: »Die modernen Menschen – wir alle, ohne Ausnahme – sind das Ergebnis großer und tiefgreifender Wellen von Wanderbewegungen und Durchmischungen über Zehntausende von Jahren.« Für Rassisten seien das schlechte Nachrichten, sagt Reich lakonisch. Denn: »So etwas wie die Reinheit menschlicher Populationen gibt es nicht. Die Genomforschung zerreißt rassistische Argumente in der Luft.«