Nebelschwaden treiben über ein menschenleeres Schwimmbecken, angestrahlt von der bunten Weihnachtsbeleuchtung eines Hotelkomplexes. Wie eine Traumlandschaft wirkt das Thermalbad in der kalten Winternacht. Langsam schiebt sich der Körper eines älteren Mannes durch das Wasser. Sein Gesicht bleibt verborgen. Die Stimme einer Erzählerin setzt ein. Sie wird fünf Geschichten schildern, die sich dem Leben dieses Mannes annähern.
Die erste ist ein dokumentarisch wirkender Prolog über ein Kind, das die Schoah überlebte. Binjamin Wilkomirski, geboren im lettischen Riga, muss 1941 nach dem Einmarsch der Deutschen mit seinen Geschwistern fliehen. Sie kommen bei einer alleinstehenden Bäuerin in Polen unter, doch statt Schutz finden sie Tortur. Binjamin wird in den Keller gesperrt und geschlagen, schließlich an eine uniformierte Frau gegeben, die ihn ins Konzentrationslager Auschwitz bringt. Dort sieht er noch einmal kurz seine Mutter.
Er überlebt auch seine Verlegung nach Majdanek und gelangt nach Kriegsende in ein Krakauer Waisenhaus. Dort wird er ein Mädchen namens Karola wiedertreffen. Mit ihr teilt er wortlos die Erinnerung an die traumatische Vergangenheit der Lager. Geschildert wird all das in der 1995 erschienenen Autobiografie »Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948«. Sie erscheint im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, die Kritik nimmt sie begeistert auf. Übersetzungen in viele Sprachen folgen, Preise werden vergeben.
Dokumentarische Dekonstruktion
Der sachliche Ton der Erzählerin wird von Material untermauert: Da sind Archivbilder aus dem jüdischen Riga, ebenso wie Szenen, die Gewaltexzesse der deutschen Truppen an der jüdischen Bevölkerung zeigen. Doch als Binjamins Geschichte sich um den polnischen Bauernhof dreht, ändert sich das Genre. Die zur Erzählung gehörenden Bilder sind nun grafische Animationen.
Nun spricht die Erzählerin beiläufig statt von einem Binjamin von einem Bruno. In diesen Aufnahmen wird er sagen, dass er im Lager seine Sprache verloren habe und die Lüge die einzige Möglichkeit gewesen sei, zu erzählen, was wirklich geschehen sei.
Nun beginnt die zweite Geschichte. Als der jüdische Schriftsteller Daniel Ganzfried 1998 für das »Passagen Magazin« ein Porträt über Wilkomirski schreiben soll, fallen ihm Unstimmigkeiten auf. Er überprüft die Schweizer Adoptionsurkunde, auf der sich jedoch der Name Bruno Dössekker findet. Nach weiteren Recherchen eines Historikers folgt die empörende Gewissheit: Binjamin Wilkomirski ist eine Fiktion.
Der Verfasser der »Bruchstücke« hat in seiner Kindheit die Schweiz nie verlassen und wuchs in einer großbürgerlichen Adoptivfamilie auf. Bis hierhin ist die Geschichte heute der Öffentlichkeit bekannt. Sie hat zu dem Begriff »Wilkomirski-Syndrom« geführt.
Der Schweizer Regisseur Rolando Colla kannte Bruno Dössekker / Wilkomirski noch aus der Zeit vor den Enthüllungen. »W. - Was von der Lüge bleibt« ist eine ebenso kunstvolle wie analytische Umkreisung der Folgen schwerer Gewalt für die menschliche Psyche und der Doppelbödigkeit von Erzählungen, die entstehen, um mit solchen Erfahrungen leben zu können.
Ein filmisches Tribunal
Collas Dokumentarfilmprojekt wird sieben Jahre umspannen. In der dritten Geschichte tritt seine Erzählerin hinter ein filmisches Tribunal zurück, das durch die Montage von Rede und Gegenrede entsteht: Durch »Bruchstücke« habe eine folgenschwere Geschichtsverfälschung stattgefunden, heißt es.
Bruno Dössekker gibt Einblick in sein Zuhause, das voller jüdischer Devotionalien ist. Auch in der direkten Konfrontation mit dem Regisseur verteidigt er sich: »Ich bin Jude, ich fühle nichts anderes. Du musst im Leben spüren, wo dein Herz ist, und das ist deine Wahrheit, und dort musst du bleiben.«
Eine dritte Figur deckt ein Trauma auf
Die vierte Geschichte folgt den Recherchen des Historikers Stefan Mächler und entdeckt eine weitere Figur: Bruno Grosjean. Sie ist die Rekonstruktion der ersten Lebensjahre des Protagonisten. Mit 14 Jahren unterzog sich Bruno einer Darmoperation, bei der schlecht verheilte Narben entfernt werden mussten. Sie stammten von schweren körperlichen Misshandlungen, die Bruno von einer früheren Pflegemutter vor seinem vierten Lebensjahr zugefügt wurden.
Die Dössekkers verweigern Bruno den Angaben zufolge die wahre Geschichte seiner Herkunft. Willkommen hat er sich nie gefühlt. Als Bruno das erste Mal Vater wird, beginnt er ein Geschichtsstudium, das ihn nach Litauen führt. Er schafft sich ein privates Archiv über die Schoah, plant eine Dissertation zur jüdischen Migration in Osteuropa.
Eine schwere Erkrankung lässt Bruno eine Psychoanalyse in Zürich beginnen, bestärkt von seiner Freundin. In der Freundschaft mit dem jüdischen Psychiater Elitsur Bernstein entwickelt dieser mit Bruno eine Methode der Rekonstruktion von abgespaltenen Erfahrungen. Bernstein zeigt sich überzeugt, dass die Vermutungen seines Freundes wahr sind und er als Kind den Holocaust überlebt hat. Gemeinsam mit seiner Freundin fahren sie zu dritt nach Riga, Birkenau und Majdanek. Als beim damaligen Chef des Suhrkamp-Verlags Zweifel in Bezug auf das erste Manuskript aufkommen, setzen sich Bernstein und die Psychoanalytikerin für die Veröffentlichung ein.
Keine Relativierung der Lüge
In einer Schlüsselszene zwischen Bruno und dem Regisseur besteht Bruno in der Konfrontation mit seiner Lüge darauf, dass ein misshandeltes Kind ein misshandeltes Kind sei - egal ob im Konzentrationslager oder einem Schweizer Waisenhaus. Der erste Teil des Satzes ist richtig, der zweite jedoch eine Anmaßung - und Colla macht nie den Fehler, diese im Laufe des Films zu relativieren. Die historische Wirklichkeit ist nicht identisch mit der subjektiven psychischen Realität.
Die fünfte und letzte Geschichte lässt die Erzählerin für sich sprechen. Darin wird deutlich, wie Bruno trotz des Mitgefühls, das ihm Menschen entgegenbringen, in seinen Lügenkonstruktionen gefangen bleibt. Eine junge Analytikerin aus Israel erklärt: Bruno weigere sich noch immer zu verstehen, was sein Anteil daran sei, dass sich alle von ihm abwendeten. Sie musste ihm klarmachen, dass sie nicht mehr für seine Fantasien zur Verfügung stehe.