»Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin …« Thomas Braschs berühmter Vers, vielleicht das Lebensmotto dieses Unbehausten, leuchtet immer wieder in dem Film Lieber Thomas auf. Der Dichter, Übersetzer und Regisseur, der vor 20 Jahren am 3. November erst 56-jährig starb, brachte das Lebensgefühl einer DDR-Generation auf den Punkt, diese Zerrissenheit, die Sehnsucht nach dem anderen Leben.
Ganz verschwunden war Brasch, um den es nach der Wende ruhig wurde, nie aus der Erinnerung seiner Leser. Dokumentarfilme wie Christoph Rüters Brasch – Das Wünschen und das Fürchten (2011), Annekatrin Hendels Die Familie Brasch (2018) und der autobiografische Roman von Thomas’ Schwester Marion Brasch Ab jetzt ist Ruhe (2012) lieferten tiefe und kluge Einsichten in die familiäre Welt, in die Widersprüche und das Leiden des Künstlers an der Gesellschaft.
FREIHEITEN Andreas Kleinerts Spielfilm Lieber Thomas fügt nun diesem Bild des Dichters eine eigene Sicht hinzu, eine starke, künstlerische Vision, die sich erzählerische Freiheiten nimmt. Albrecht Schuch spielt sehr einfühlsam und voller Leidenschaft den Dichter, nicht um äußere Ähnlichkeit, sondern innere Wahrhaftigkeit bemüht.
Thomas Brasch wurde als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten in England geboren, mit den kommunistischen Eltern kam er 1947 in die sowjetische Besatzungszone, wo der Vater in der SED-Hierarchie zum stellvertretenden Kulturminister aufstieg.
Wie seine beiden Brüder und die Schwester wuchs er in einem privilegierten Umfeld auf, dennoch protestierte Thomas mit Flugblättern gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Er wurde, möglicherweise auf eine Anzeige des Vaters hin, verhaftet und saß im Gefängnis.
AUSREISE Publiziert wurde in der DDR kaum etwas von ihm, sein inzwischen legendäres Buch Vor den Vätern sterben die Söhne erschien nur im Westen, deshalb wurde Brasch zur Ausreise gedrängt. Doch auch in der Bundesrepublik ließ er sich nicht vereinnahmen, weigerte sich, das Heldenbild eines abgestraften Dissidenten zu bedienen.
Kleinerts Film (Drehbuch: Thomas Wendrich) macht diese biografischen Stationen genau kenntlich und ist dennoch mehr als ein konventionelles Biopic. Er stellt den tiefen inneren Konflikt Braschs in den Mittelpunkt, das Abarbeiten an dem Funktionärsvater, dem der großartige Jörg Schüttauf eine sehr differenzierte, menschlich-tragische Gestalt gibt.
Die Szenen zwischen Vater und Sohn sind besonders innig, beklemmend und spannungsvoll gelungen.
Dieses Ringen um Anerkennung, der Respekt vor dem antifaschistischen Vater, aber auch die Rebellion gegen den greifbaren Vertreter eines engstirnigen Systems, die häuslichen Aufstände halten die einzelnen Episoden über viele Jahre zusammen, bilden einen kräftigen, immer spürbaren, erzählerischen Unterstrom.
Kleinert kehrt damit nach erfolgreichen Fernseharbeiten, darunter sieben Folgen von Klemperer – Ein Leben in Deutschland, zum Kino und dem eigenen großen Lebensthema zurück. In seinem Film Wege in die Nacht (1999) spielte Hilmar Thate einen ehemaligen DDR-Funktionär, der das für ihn erschreckende Chaos der neuen Zeit gewaltsam ordnen will.
DILEMMA Auch Kleinerts Vater war Funktionsträger in der DDR, er wurde nach der Wende wegen Wahlfälschung verurteilt. Der Sohn hat ihn aber auch als tolerant und zugewandt in Erinnerung. Thomas Braschs Dilemma, diese tiefe Verbundenheit mit dem Vater und dessen System bei aller kritischen Distanz, diese Gleichzeitigkeit von Loyalität und Aufruhr, kennt Kleinert auch aus eigenem Erleben.
Vielleicht sind ihm deshalb die Szenen zwischen Vater und Sohn so besonders innig, beklemmend und spannungsvoll gelungen. Der schwarz-weiße Film lässt das bunte Leben der DDR-Boheme in den Nischen jenseits aller Klischees aufscheinen, vor allem aber umkreist er die unbändige Kreativität von Brasch, den verzehrenden Schaffensrausch eines ewig Unangepassten. Wir sehen hier dem Künstler beim Dichten, beim Denken, beim Fantasieren zu.
Ab jetzt in der arte-Mediathek.