Cem Özdemir schossen Tränen in die Augen. Bei der Talkrunde »Markus Lanz« am späten Donnerstagabend wurde der Grünen-Politiker sichtlich auf dem falschen Fuß erwischt. Eigentlich, so hatte er wohl erwartet, sollten in der Sendung die fast 100-jährige Schoa-Überlebende Margot Friedländer und ihr Lebensschicksal im Mittelpunkt stehen. Doch dann wurde er gefragt, wie es denn sein könne, dass seine Partei seit seinem letzten Studiobesuch bei Lanz im Juni in den Umfragen abgesackt sei.
THEMA »Ich tue mich gerade etwas schwer, angesichts der Anwesenheit dieser Frau über die Niederungen der Prozentzahlen zu reden«, sagte Özdemir zu Beginn mit Blick auf Friedländer. Es sei wichtiger, dafür zu sorgen, dass das Wissen über die NS-Gräueltaten nicht verloren gehe, wenn die Holocaust-Überlebenden bald nicht mehr da seien, sagte Özdemir mit gebrochener Stimme.
Doch es half nichts. Markus Lanz wollte zunächst den Wahlkampf der Grünen thematisieren. Assistiert vom Chefredakteur der Internetplattform »Media Pioneer«, Michael Bröcker, »lanzte« der Moderator Özdemir mit Fragen zu sinkenden Umfragewerten, Koalitionsaussagen, Parteispenden und der Spitzenkandidatin seiner Partei.
Mehrmals warfen Lanz und Bröcker die Frage auf, ob Annalena Baerbock nicht von ihrer Kanzlerkandidatur hätte abgebracht werden müssen und ob Özdemir insgeheim nicht auch so denke. Als dieser die Unterstellung verneinte, bohrte Lanz unerbittlich nach. Er wollte wissen, warum der Ex-Vorsitzende von Bündnis90/Die Grünen nicht klipp und klar eine Koalition mit der Linkspartei ausschließe.
PLAKAT Die beiden weiblichen Studiogäste – neben Friedländer die Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion (JSUD), Anna Staroselski – kamen in den ersten 30 Minuten der Sendung nur kurz Wort, als es um ein Wahlplakat der Partei »Der dritte Weg« mit den Slogans »Hängt die Grünen« und »Wählt deutsch!« ging. Minutenlang wurde das hetzerische Plakat auf dem Bildschirm hinter Lanz eingeblendet. Eine bessere Wahlwerbung im öffentlich-rechtlichen TV hätte sich die rechtsextreme Splitterpartei kaum wünschen können.
Doch wer jetzt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem des Rechtsextremismus erwartet hatte, wurde enttäuscht. Lanz ging schnurstracks zurück zum Thema Wahlkampf, und Bröcker nutzte das hetzerische Wahlplakat der Rechtsextremisten sogar für eine Spitze gegen Özdemir und dessen Parteivorsitzende. »Es wäre ja stark aus Sicht der Grünen, wenn Sie mit Ihrem klaren Aktionismus, Ihrer klaren Kante gegen diese Form [des Rechtsextremismus] so stark werden, dass Sie das Land von vorne führen können. Das können Sie nicht, weil Ihre Kandidatin so viele Fehler gemacht hat.«
Ob ihr der Rechtsruck im Land von früher »auf ungute Weise« bekannt vorkomme, wollte Lanz von Friedländer wissen. Die bejahte das und sagte, das Klima in Deutschland habe sich in den letzten Jahren stark verschlechtert. Und es werde viel zu wenig dagegen unternommen. Als sie vor mehr als elf Jahren aus den USA nach Deutschland zurückgekommen war, sei das gesellschaftliche Klima ein ganz anderes gewesen.
STATEMENT Staroselski beklagte, wegen der AfD seien Rassismus und Antisemitismus wieder »sagbar« geworden. »Diese Partei ist mitverantwortlich für eine Diskursverschiebung«, betonte sie. Die jüdischen Verbände, auch die JSUD, wendeten sich entschieden gegen die Wiederwahl dieser Partei, fügte sie mit Verweis auf einen am Donnerstag von mehr als 60 Organisationen unterzeichneten Wahlaufruf an. Das sei ein »klares Statement« gegen eine »Diskursverschiebung«, so Staroselski.
Dann wandte Lanz sich wieder an Bröcker und fragte ihn, ob er eine Mitschuld für das Aufkommen des Rechtsextremismus nicht auch bei den etablierten Parteien sehe. Der Journalist ließ sich nicht lange bitten und bejahte - »indem sie weder eine Strategie noch ein Mittel noch eine Positionierung gefunden haben, um die Themen zu adressieren, die die AfD adressieren konnte«. Die AfD sei durch das »Versagen der anderen Parteien« wiederbelebt worden, obwohl sie vor einigen Jahren bereits »klinisch tot« gewesen sei, wetterte er.
Bröcker bezeichnete Baerbock als eine »kluge Frau«, die eine »tolle Außenministerin« abgeben würde. »Aber sie ist die falsche Spitzenfrau!« Lanz ergänzte: »Es ist ein historischer Moment, es geht um ganz große Themen, wir sind an einem Wendepunkt - und dann vermasseln Sie es«, ging er Özdemir frontal an. Der wirkte zunehmend genervt.
RESPEKT Die Hälfte der Sendezeit war schon vorüber, als der Moderator endlich ein Einsehen hatte, sein Kreuzverhör mit dem Grünen-Mann aus Baden-Württemberg beendete und sich Friedländer und zum Schluss auch Staroselski zuwandte.
»Wer eine Synagoge angreift, greift die Grundfesten unseres Landes an und kriegt es mit uns allen zu tun.«
Die 1921 in Berlin geborene und aufgewachsene Zeitzeugin hatte gemeinsam mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ein Buch herausgebracht, in dem sie ihre Lebensgeschichte schildert. CDU-Chef Armin Laschet persönlich kam zur Vorstellung des Gesprächsbandes vergangene Woche in Berlin.
Sie könne auch heute noch keine Antwort geben auf die Frage, warum die Schoa geschehen konnte, sagte Friedländer. »Man kann nicht alle Menschen lieben. Aber Respekt gebührt allen Menschen. Es gibt kein jüdisches, christliches, muslimisches Blut, es gibt nur menschliches Blut.«
Von Lanz gefragt, warum sie nach 64 Jahren in New York 2010 den Entschluss gefasst habe, nach Deutschland zurückzukommen, meinte sie: »Es war meine Stadt, ich bin hier geboren, ich gehöre hierher, ich bin ja keine Amerikanerin.«
WARNUNG Ursprünglich habe ihr Vater wie viele andere Juden in Deutschland geglaubt, es werde mit den Nazis schon nicht so schlimm werden. »Die meinen nicht uns«, habe er der Familie gesagt. In der Pogromnacht im November 1938 sei ihr dann endgültig klar geworden, so Friedländer, dass die Nationalsozialisten doch die deutschen Juden meinten – auch Weltkriegsveteranen wie ihren Vater.
Als Einzige aus ihrer Familie überlebte Margot Friedländer. Sie hatte großes Glück, tauchte unter, überlebte das KZ Theresienstadt. Ihre Mutter und ihr Bruder Ralph wurden dagegen verhaftet, nach Auschwitz deportiert und kurze Zeit später ermordet. Ihr Vater, der schon vor Kriegsbeginn die Familie verlassen hatte und nach Belgien gegangen war, wurde umgebracht.
Wenn sie zu Schülern spreche, mache sie ihnen immer klar: »Nach dem, was ihr gehört habt, werdet ihr euch vielleicht wundern, warum ich zurückgekommen bin. Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen, euch die Hand zu reichen, was ihr nicht unbedingt erwarten konntet, und euch zu warnen. Denn wenn etwas passiert, seid ihr dran. Das ist meine Message, das ist meine Mission«, betonte Friedländer.
VERANTWORTUNG Anna Staroselski sagte, auch sie spüre diese Verantwortung. Als Jude könne man es sich nicht leisten, sich in der Gesellschaft zu verstecken, sondern müsse in sie hineinwirken. Im Zweifel müsse man sich an die Seite von Freiheit und Frieden stellen und diese auch verteidigen. »Es geht auch darum, zu sagen, dass sich jüdische Menschen in diesem Land so verankert fühlen, dass sie ihm dienen möchten.« Dafür müsse man allerdings ihre Sicherheit garantieren – es sei ein »Staatsversagen«, dass sich viele Juden nicht sicher fühlten in Deutschland, so Staroselski.
Zum Schluss bekam Cem Özdemir doch noch einmal das Wort zu dem Thema, das ihm besonders am Herzen lag. »Eines ist ganz wichtig: Bei antisemitischen Übergriffen sind es doch nicht die jüdischen Organisationen, die zuständig sind, den Protest zu organisieren«, sagte er. Vielmehr müssten die Nichtjuden des Landes sich zuständig fühlen und handeln. »Wer eine Synagoge angreift, greift die Grundfesten unseres Landes an und kriegt es mit uns allen zu tun.«
Die Sendung lässt sich in der ZDF-Mediathek hier abrufen.