Es gibt Momente im Leben, die wie aus der Zeit gefallen scheinen. In Wahrheit kann Stille trügerisch sein. Das, was die Leute tun, mag alltäglich wirken, vor allem auf dem Land, wo Jahreszeiten und die Versorgung der Tiere, Morgen- und Abenddämmerung den Arbeitsrhythmus bestimmen. Ganz zu schweigen von verborgenen Aktivitäten während der nächtlichen Dunkelheit.
Das ist nur eine Ebene im Kosmos, den Andrzej Stasiuk in seinem Roman Przewóz eröffnet. Während der polnische Begriff verschiedene Lesarten zulässt wie Beförderung, Transfer, Transport und im übertragenen Sinn Anlegestelle, gibt der Titel der deutschen Veröffentlichung Grenzfahrt mehr preis, interpretiert gewissermaßen, was einen thematischen Schwerpunkt ausmacht: die Flucht eines jüdischen Geschwisterpaars von der polnischen Seite unter deutscher Besatzung über einen trügerischen Fluss ans andere Ufer unter sowjetischer Kontrolle, was – wenn überhaupt – nur mit einem waghalsigen Fährmann möglich ist.
traumziel Die jungen Leute, viel zu spät dran für ihr Traumziel Birobidschan, sind zwischen zwei hochgerüsteten feindlichen Armeen gestrandet. Der Hitler-Stalin-Pakt steht im Juni 1941 kurz vor seinem Kollaps. Die Chance, dem im Juni bevorstehenden Inferno zu entgehen, ist gleich null. Nicht nur für jüdische Flüchtlinge, sondern auch für die Partisanen, die die Deutschen aus patriotischen Gründen hassen – und die Juden dank des »christlichen« Hasses, der schon mit der Muttermilch eingeflößt wurde. Nicht zu vergessen die lokalen Kleinbauern, deren Armut man sehen und riechen kann.
Über den Bug wollen jüdische Geschwister ans Ufer unter sowjetischer Kontrolle flüchten.
Stasiuk beschreibt die polnische Sommerlandschaft am Bug, so der Name des ungenannten Flusses, anschaulich wie ein Landschaftsmaler: »In der Ferne lag gestreifelt das andere Ufer. Tiefliegend, graugrün, flach wie die Steppe, zog es sich bis zum Horizont. Hier und da, zum Fluss hin, war es mit Weiden bewachsen.«
So gut wie alles erzählt er entlang der Gerüche, auch des Gestanks. Tagelang ungewaschen unterwegs zu sein, im Freien zu übernachten, Angstschweiß, Holzhäuser, in denen Mensch und Tier auf zu engem Raum leben, das riecht »nach feuchtem, gestampftem Lehm«, »selbst an den heißesten Tagen« im Wald spürt man »modrige Feuchtigkeit«.
GEWALTORGIE Eine Gewaltorgie erreicht ihren Höhepunkt in der Beschreibung der Schlachtung eines um sein Leben kämpfenden Schweins sowie in Tortur und Ermordung eines vermeintlichen Spitzels durch die Partisanen. Selbst der Fluss ist voller Tod, denn in ihm treiben zu viele namenlose Leichen flussabwärts. Niemand nimmt Anteil, man verroht und achtet, wenn möglich, nur darauf, nicht selbst Opfer zu werden. Der Fluss »floss in seiner Hauptströmung, doch zugleich wollte er die Altarme nicht aufgeben, die er seit Jahrtausenden in die Erde gespült hatte. Die Hitze ließ dichte Schwaden von Fäulnis in der Luft schweben«.
Anschaulicher und poetischer lässt sich diese Windstille vor dem menschenverschlingenden Sturm, den der Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion auslösen sollte, nicht beschreiben.
Doch damit allein ist es bei einem so grandiosen Erzähler wie Andrzej Stasiuk nicht getan.
Es gibt eine weitere Erzählebene, die eines Rückkehrers, der Jahrzehnte später mit seinem inzwischen dementen Vater, der 1941 ein Kind war, zurückkehrt. Ein ziemlich trostloses Unterfangen: »Die Erinnerungen an den Krieg, der ja noch immer existierte und den Geist vernebelte wie Wodka. Der Krieg ist nie zu Ende für jemanden, der ihn gesehen hat.«
GENIESTREICH Für seine Leserschaft gelingt Stasiuk ein ziemlicher Geniestreich. Denn er gibt jeder der sich befeindenden Parteien nicht eine, sondern mehrere Stimmen und zeigt, was unter dem dünnen zivilisatorischen Firnis lauert: Angst, Hunger, Gewalt, animalische Sexualität, Überlebenswille, Grausamkeit und bis in den Untergang die unerschütterliche Sturheit, jeweils im Recht zu sein. Trotz aller Regeln und Verbote, die Kirche, Armee, Partisanenkodex und Bauernkalender vorgeben, bewegen sich alle Protagonisten genau genommen in einem gesetzlosen Raum. Wer überlebt oder nicht, ist eine Frage des Zufalls, des Glücks und – wie man heute sagt – der Resilienz, der Widerstandskraft.
Stasiuk gelingt ein ziemlicher Geniestreich. Denn er gibt jeder der sich befeindenden Parteien nicht eine, sondern mehrere Stimmen.
Polnische Geschichte so zu erzählen, erspart dem Autor hoffentlich die Konfrontation mit der Zensur. Denn in Polen ist es heute für Historiker und Autoren nicht ungefährlich, kritische Wahrheiten zu den Verstrickungen der polnischen Bevölkerung in die Verbrechen der Deutschen zu äußern. Unbestritten hat das polnische Volk unter der deutschen Okkupation schwer gelitten. Über die Mitmacher und Profiteure zu sprechen, würde der Wahrnehmung dieses Leids keinen Abbruch tun. Genau das sieht die regierende PiS-Partei anders.
geschicke Stasiuk wohnt seit 1986 in Czarne nahe der slowakischen Grenze. Seit 1990 ist er mit der vaterjüdischen Kulturanthropologin Monika Sznajderman verheiratet, die Die Pfefferfälscher. Geschichte einer Familie veröffentlichte. 1996 gründeten die beiden 1996 den Verlag »Czarne«. Das korrespondiert nicht nur mit dem Ortsnamen, sondern auch mit dem polnischen Wort für »schwarz«. Die Welt nicht nur schwarz zu sehen, davor bewahrt Stasiuk sein differenzierter Blick auf die Geschicke seines Landes und seine offenkundige Liebe zur Natur, die sein Schaffen prägen.
Das vielfach ausgezeichnete Werk des freiwillig zurückgezogen lebenden Schriftstellers erscheint in 30 Ländern. Eine ganz große Auszeichnung aus Stockholm möchte man ihm wünschen, weil sie der klassischen polnischen Literatur zur Ehre gereichen und diesen außergewöhnlichen Erzähler angemessen würdigen würde. Gerade in diesen Zeiten polnischer Realität.
Andrzej Stasiuk: »Grenzfahrt«. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Suhrkamp, Berlin 2023, 355 S., 25 €