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Triumph der Einsamkeit

Von Berlin über Großbritannien nach Australien und zurück: Walter Kaufmann Foto: imago

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Triumph der Einsamkeit

Walter Kaufmann, einer der Außenseiter und großen Unbekannten der deutschen Literatur, wird 95. Ein Geburtstagsgruß

von Chaim Noll  19.01.2019 18:01 Uhr

Als Kind sah Walter Kaufmann die bürgerliche Welt seiner Eltern in Scherben gehen. Der Vater, ein jüdischer Rechtsanwalt, wurde von den Nazis ins KZ gesperrt, die Villa in Duisburg verwüstet: »Die schwingenden Glastüren im Flur – beide in Scherben, auf dem Teppich knirschen die Glassplitter unterm Schuh. Vaters Arbeitszimmer und die Bibliothek – die Möbel zertrümmert, die Bücherregale umgekippt, juristische Fachbücher und Romane der Weltliteratur auf dem Boden verstreut. Der Zauberberg, Krieg und Frieden, der Band Deutsche Justiz mit zerrissenem Einband in die Ecke geschleudert. Mutters Biedermeierzimmer, die Porzellansammlung – ein Scherbenhaufen, die Landschaftsaquarelle zerschnitten. Unten im Garten, in einem Blumenbeet, liegt der Bechsteinflügel …«

FREIHEIT Kurz darauf, 1939, konnte Kaufmann nach England ausreisen, allein, mit einem der letzten Kindertransporte. Die Eltern blieben in Deutschland, er sah sie nie wieder. Von da an, wie er schreibt, »fühlte er sich ausgestoßen und dabei frei und ungebunden«. Bleiben war dagegen mit Gefahr assoziiert, mit der Möglichkeit einer Täuschung. Vielleicht war die Fähigkeit, in der Verstoßung das Geschenk der Freiheit zu erkennen, seine Rettung.

Als Kind sah Walter Kaufmann die bürgerliche Welt seiner Eltern in Scherben gehen.

Denn auch England erwies sich als trügerisch. Schon zwei Jahre nach seiner Ankunft wurde der 16-Jährige als »feindlicher Ausländer« interniert und nach Australien deportiert, ans andere Ende der Welt. Dort schlug er sich als Landarbeiter durch, als Obstpflücker, Hafenarbeiter und Kraftfahrer. Frauen halfen ihm zu überleben – eines der Leitmotive seines Lebens. Schließlich ging er als Freiwilliger zur australischen Armee.

Ehe er 20 wurde, kannte er alle Arten von Einsamkeit, Verlorenheit in der Fremde, unerfüllter Sehnsucht. Er machte das Beste daraus. Seine Erinnerungsprosa, vereinigt in dem 2013 erstmals erschienenen und 2017 neu aufgelegten Band Schade, dass du Jude bist: Kaleidoskop eines Lebens, ist ein großer Gesang auf die Fähigkeit, allein seinen Weg zu gehen. Kaufmann muss in seinen Siebzigern und Achtzigern gewesen sein, als er sich der schmerzhaften Mühe dieser autobiografischen Erzählungen unterzog.

Kaufmann ist ein Mann mit dem Talent zum Außenseiter. Heimatlos, wie er war, versuchte er es nach dem Ende der NS-Zeit erneut mit Deutschland, floh aus dem Westen, wo man zunächst nichts verstanden hatte und alles beim Alten ließ, in die Sowjet-Zone, wo alles erneuert wurde und auch der Judenhass ein neues Etikett erhielt. Schon in Australien hatte er zu schreiben begonnen, auf Englisch, und Verschiedenes veröffentlicht. Man ließ ihn auch in Ostdeutschland schreiben, doch er stieß bald an die ehernen Pforten der Zensur.

WEIGERUNG Ich erinnere mich als Kind an Kaufmann in der DDR: Er blieb ein Autor ohne staatliche Förderung, halb verschwiegen, ein Autor, der zu kämpfen hatte. Die Erzählung »Verlagshaus«, in der er seine Weigerung beschreibt, die gewünschte Änderung am Text zu vollziehen, lieber auf die Veröffentlichung eines Romans verzichtet, ist für mich einer der stärksten seiner späten Texte. Das Bild einer in Scherben gegangenen deutschen Welt nahm Walter Kaufmann mit, wohin er immer ging.

Es hielt sein Misstrauen wach, gegen falsche Beheimatung und Assimilation. Auch in der DDR blieb er ein Fremder, verbrachte einen großen Teil seiner Zeit auf Reisen, etwa in die USA, nach Irland und Israel, worüber er dann auch Bücher schrieb. »Sie wollte überall und nirgends sein«, heißt es über die Protagonistin einer seiner Erzählungen, »wie Treibholz im Strom.« Kaufmann gibt nicht vor, dass ihm dieser Zustand leichtgefallen ist, in seiner Jugend verfolgte ihn, wie er schreibt, »die Angst, nirgends hinzugehören«.

In der DDR blieb er ohne staatliche Förderung, halb verschwiegen, ein Autor, der zu kämpfen hatte.

Ein abgründiges Leben. Aufgezwungen. Schon als Junge aus allen Bahnen geworfen. Früh der Kampf ums bloße Überleben. Unvergesslich seine Splitterbilder einer zerstörten jüdischen Kindheit. Wie man ihn ausgrenzte. Wie Freunde ihn verrieten. Wie seine wenigen jüdischen Mitschüler unter die Räder kamen. Einigen gelang die Flucht, wie ihm, an entlegene Orte: Honduras oder Palästina.

Er hat die neue »Zerstreuung« seines Volkes als Zeuge mitangesehen. Wie man ihm den Hund wegnahm, weil Juden in Deutschland selbst dieses Recht verloren: einen Hund zu besitzen. Und wie der Hund der SS entfloh, die ihn zum Wachhund abrichten wollte, und noch einmal zu seinem kindlichen Besitzer zurückkehrte und die Schmerzen ihrer Trennung nur verdoppelte, denn er wurde in einem so ordentlichen Land ein zweites Mal geholt. Dieser Text gehört in die deutschen Lesebücher. Jedes Kind kann ihn verstehen: den Schmerz des jungen Erzählers; die pedantische Perfidie seiner Peiniger; wie die Katastrophe der Schoa im Kleinen abgelaufen ist. All das wird in einem fast kühlen Ton erzählt, in einer Distanz zum eigenen Erleben, die Kaufmanns lange Wanderungen erzeugt haben.

Walter Kaufmann schrieb meist auf Englisch, seine Texte wurden erst nachträglich ins Deutsche übersetzt. Vielleicht gelingt es ihm deshalb, ureigenste deutsche Affären so unaufgeregt und souverän zu erzählen. Walter Kaufmann wird am 19. Januar 95 Jahre alt. Jom huledet sameach!

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