Olivier Ameisen war Alkoholiker – und wurde deshalb zum Suchtexperten. 1953 in Paris geboren, war er musikalisch hochtalentiert und wollte zunächst als Pianist Karriere machen. Doch seine Eltern bestanden auf einer schulischen Ausbildung. Olivier machte sein Abitur bereits mit knapp 16 Jahren. Trotzdem war es schon zu spät für eine Orchesterkarriere. Ameisen studierte stattdessen Medizin. Auch auf diesem Gebiet war er sehr begabt, und seiner Laufbahn schien nichts im Wege zu stehen.
Ameisen ging in die USA und arbeitete in New York zunächst als Forschungsassistent, später als Dozent an der Cornell University. Zudem eröffnete er eine eigene Praxis in Manhattan. Doch immer wurde er von Ängsten geplagt, die er mit Alkohol zu bekämpfen versuchte – mit fatalen beruflichen und gesundheitlichen Folgen.
Holocaust Wegen seiner Alkoholabhängigkeit gab Ameisen 1997 seine medizinische Tätigkeit auf und widmete sich seiner eigenen Behandlung. Trotz mehrerer Entziehungskuren kam er jahrelang nicht von seiner Sucht los. Die existenzielle Angst, die ihn in die Alkoholabhängigkeit geführt hatte, erklärte sich Ameisen mit seiner Familiengeschichte. »Meine Eltern waren Auschwitz-Überlebende, und ich lebte in ständiger Furcht vor einem neuen Holocaust. Aus Angst vor Antisemitismus bin ich überhaupt nach Amerika gekommen«, erzählte er einmal.
Doch im Jahr 2001 las er einen Artikel über den Einsatz von Baclofen, einem Mittel zur Muskelentspannung, bei der Behandlung eines Kokainabhängigen. In Eigenregie machte er einen Versuch der Selbstbehandlung mit diesem Mittel – und hatte Erfolg. Von da an setzte Ameisen sich mit aller Kraft für den Einsatz von Baclofen in der Behandlung von Alkoholismus ein. Ende 2004 veröffentlichte er seine Ergebnisse in der Fachzeitschrift »Alcohol and Alcoholism«. Doch bekannt wurde seine Entdeckung durch sein populärwissenschaftliches Buch Le Dernier Verre (»Das letzte Glas«) von 2008.
Alkohol Olivier Ameisen fand sowohl Unterstützer als auch Kritiker: Während einige Wissenschaftler in seiner Entdeckung einen Durchbruch und eine wichtige Hilfsmöglichkeit für Alkoholiker sahen und immer noch sehen, waren andere skeptisch. Olivier Ameisen kritisierte sie als dogmatisch. Für ihn war Alkoholismus eine körperliche Erkrankung, und Baclofen ermögliche es den Patienten, dem Alkohol gegenüber »gleichgültig« zu werden. Das Mittel eröffne ihm zufolge gar die Perspektive, ohne 100-prozentige Abstinenz zu leben – das Gegenteil der Lehrmeinung zur Behandlung von Alkoholikern.
Ameisens jahrelanger Kampf für den Einsatz von Baclofen in der Suchttherapie führte dazu, dass die französische Arzneimittelbehörde inzwischen den Einsatz des Mittels in Einzelfällen empfiehlt und im vergangenen Jahr wissenschaftliche Studien dazu erlaubt hat. Eine mögliche Zulassung für die Behandlung von Sucht wird Olivier Ameisen nicht mehr erleben können. Er verstarb am 18. Juli, drei Wochen nach seinem 60. Geburtstag, in Paris.