Die Gleise, schnurgerade im Grünen zwischen Himmel und Erde, die Bahnstationen, so nah beieinander liegend, dass der Warschauer Vorortzug gar nicht richtig Fahrt aufnehmen kann; schließlich die jüdische Sommerfrische an der Weichsellandlinie, schon leicht heruntergekommen und für ein paar Tage erneut bewohnt von den zahllosen Tanten und Onkeln, Großvätern und Großmüttern des Erzählers. Piotr Pazinskis Roman Die Pension über seine jüdische Kindheit und Jugend im Nachkriegspolen wurde in der Heimat des Autors als außergewöhnliches literarisches Debüt gefeiert und erhielt auf Anhieb mehrere Literaturpreise. Nun liegt das Buch auch in deutscher Übersetzung vor.
Pazinski ist von Beruf Literaturwissenschaftler. Seine Dissertation über James Joyces 700-seitigen Roman Ulysses gilt als Standardwerk. An einer Universitätskarriere hatte der heute 42-Jährige jedoch kein Interesse. Stattdessen arbeitete er als Journalist, zunächst bei der linksliberalen Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« und ab 1997 bei der polnisch-jüdischen Kulturzeitschrift »Midrasz«. Seit 15 Jahren ist er ihr Chefredakteur, übersetzt und publiziert daneben auch Erzählungen, Tagebücher und Romane wichtiger jüdischer Autoren und Autorinnen und nimmt aktiv am intellektuellen Leben Warschaus teil.
kurort »Vieles im Roman ist autobiografisch«, sagt Pazinski bei einem Gespräch in den Redaktionsräumen von Midrasz. »Das jüdische Ferienheim im Luftkurort Srodborow gibt es tatsächlich. Das ist nicht ausgedacht.« Er lehnt sich an die Wand neben dem Fenster, sodass er direkt auf die benachbarte Synagoge blicken kann. »Auch die Helden in meinem Roman ähneln den Gästen, die einst in dieser Pension Erholung gesucht haben.«
Diese Gäste waren fast alle Schoa-Überlebende, die nach dem Krieg in Polen blieben, während ihre Kinder und Enkel in einer der ersten großen Emigrationswellen das Land verließen. Fast alle machten alleine Urlaub. Kaum einer hatte noch Familie in Polen. »Ich habe in der Pension laufen gelernt, auf dem Pfad von der Pforte zur Veranda und zurück«, erinnert sich Pazinski. »Aber Spielgefährten in meinem Alter hatte ich dort nicht.« Als Kind sei ihm das nicht weiter aufgefallen. »Das war eben meine Welt. Ich war von vielen alten Menschen umgeben, die ich Tante und Onkel nennen durfte. Das war meine große Familie.«
Tante Tecia ist eine der Romanheldinnen. Als Pazinski nach vielen Jahren erneut eine Woche in der Pension verbringt, ist auch sie da. »Sie war so alt, dass ihr die Zeit nichts mehr anhaben konnte.« In ihrem Pensionszimmer stapeln sich uralte Zeitungen, verstaubt ein Porzellanservice – »zum Benutzen zu schade und zu schade zum Wegwerfen«, an den Wänden hängen zwei Bilder, die sie einst von der Großmutter des damals kleinen Piotr geschenkt bekommen hatte: eine Grafik mit der Montefiore-Windmühle und dem King-David-Hotel in Jerusalem sowie die Reproduktion eines Chagall-Glasfensters im Hadassah-Krankenhaus.
Dann stellt Tante Tecia plötzlich zwei Schuhkartons auf den Tisch: In dem einen befinden sich kleine Päckchen mit vergilbten Briefen aus der Kriegszeit, im anderen Fotografien vor allem aus der Vorkriegszeit. Auf den Bildern sind Verwandte von Piotr zu sehen, aber auch alte Bekannte aus der Pension und einige völlig Unbekannte. Woher hatte Tante Tecia diese Briefe und Fotos? »Ich weiß nicht«, antwortet sie dem Erzähler im Buch, scheint aber froh zu sein, die Kartons nun doch noch in die richtigen Hände geben zu können.
nummer »Diese Szene ist erfunden«, erklärt Pazinski. Aber die Kartons mit den Briefen und Fotos gebe es tatsächlich. »Ich habe sie geerbt, zusammen mit einer Wohnung, Hunderten von Büchern und dem gesamten Inventar.« Auf den Fotos könne er noch Menschen erkennen, auch Orte, Straßen und bestimmte Situationen, von denen in der Familie gesprochen wurde. »Ich kann aus den Fotos zumindest noch einen Teil der Erinnerung meiner Familie rekonstruieren und damit vor dem Vergessen retten. Im Buch wie in Wirklichkeit.«
Obwohl in Pazinskis Roman die Schoa kaum direkt angesprochen wird, ist sie doch allgegenwärtig. Manche der Pensionsgäste konnten rechtzeitig vor den Deutschen in die Sowjetunion fliehen, andere versteckten sich unter falschem Namen. Eine Tante hat eine Nummer auf dem Arm. Der neugierige Junge bekommt als Erklärung nur zu hören, dass das die Nummer aus Auschwitz sei und die Deutschen sie eintätowiert hätten. Mehr erzählt auch die Tante nicht. Weder ihm noch sonst jemandem in der Pension. Ein anderer Gast hinkt leicht. In seiner Hüfte steckt noch immer eine Kugel. Er war im Krieg bei den sowjetischen Partisanen.
folgen »Ich beschreibe in meinem Buch die Welt der polnischen Juden, wie sie nach dem Krieg aussah. Einen ersten Ausschnitt davon«. Ein zweites Buch ist bereits auf Polnisch erschienen, ein drittes in Arbeit. Pazinski zeigt auf die Jahrgänge von »Midrasz« in den Regalen. »Wir konnten die Zeitschrift erst nach 1989 gründen, als es keine Zensur mehr gab und sich die Lauder-Stiftung bereit erklärte, unsere Initiative zu finanzieren. Es hat sich seither sehr viel verändert«, sagt er.
Aber es sei keineswegs so, dass es erst ab 1989 zu einer »Renaissance des Judentums« in Polen kam. »Die meisten Juden in Polen wussten die ganze Zeit über, dass sie Juden sind. Aber die Menschen sind verschieden: Die einen redeten nach der Schoa sofort über ihren Verlust und über den Neuaufbau des jüdischen Lebens in Polen, andere verstummten für Jahre oder sogar Jahrzehnte.« Der Antisemitismus im Lande habe es nicht leichter gemacht. Zudem hätten die kommunistischen Regierungen Polens die Emigration der Minderheiten gefördert. Heute sei Polen ein weitgehend homogenes Land fast ohne Minderheiten.
»Die Renaissance des Judentums in Polen gibt es, und sie dauert nach wie vor an«, sagt Piotr Pazinski. Aber sie darf nicht verdecken, dass es auch vor 1989 jüdisches Leben in Polen gab. Es war schwierig, aber wer ein jüdisches Leben führen wollte und – beispielsweise – die Ferien zusammen mit anderen Juden verbringen wollte, konnte das tun.«
Piotr Pazinski: »Die Pension«. Roman. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel. edition.fotoTAPETA, Berlin 2015, 144 S., 16,80 €