Der Begriff »Trauma« ist zu einem fast bedeutungsleeren Modewort verkommen, seit er inflationär für alles Erdenkliche verwendet wird. Ob es um Opfer von Naturkatastrophen, von Krieg und von Verfolgung geht, um eine belastende Trennung oder eine unfaire Behandlung durch Vorgesetzte – jedwede Unbill wird als Traumatisierung deklariert. Am Ende sind wir alle durch irgendetwas traumatisiert.
Wegen seines Doppelcharakters unterliegt die Verwendung des Begriffs einer zusätzlichen Schwierigkeit: Denn als »Trauma« wird nicht nur das traumatische Ereignis selbst bezeichnet, sondern auch die Folgen dieser Erfahrung in Gestalt einer seelischen Wunde, die langfristigen Schmerz verursacht, weil sie nicht verheilt. Doch damit nicht genug. Wendet man sich der transgenerationalen Trauma-Tradierung zu, also den von Generation zu Generation vermittelten psycho-sozialen Spätfolgen der NS-Judenverfolgung, sieht man sich mit einem weiteren Problem konfrontiert: Welche Bezeichnung ist für die Menschheitsverbrechen der Nazis angemessen?
Diese Frage ist bedeutend, weil uns der Versuch, sich über die Schoa und ihre seelischen Auswirkungen zu verständigen, nicht nur an menschliche und kulturelle Abgründe führt, sondern gleichermaßen in den Grenzbereich unserer Sprache. Es bedarf eines psychoanalytisch-szenischen Ansatzes, sich dem anzunähern, wie die überlebenden Opfer der Verfolgung noch Jahrzehnte danach mit ihren Erinnerungen leben und wie dies nachhaltig die Beziehungen zu ihren Nachkommen und am Ende auch deren Seelenleben prägt. In den Beziehungen zu ihren Eltern kommen auch die Kinder und Kindeskinder der Überlebenden mit dem in Berührung, was Jean Améry den »Verlust von Weltvertrauen« nannte. Nicht vornehmlich mittels ihrer Erzählungen, sondern vor allem in unbewusst gestalteten Szenen vermitteln die Überlebenden den anderen das, wofür es keine Worte gibt.
Sprache Diese inhaltliche sowie sprachliche Problematik deutet sich schon bei der Suche nach einer angemessenen Bezeichnung für die Verfolgung der Juden in der NS-Zeit an. Die Nazis selbst sprachen zynischerweise von der »Endlösung der Judenfrage«. Aber auch der seit den 70er-Jahren verwandte Begriff »Holocaust« ist problematisch, verleiht er doch aufgrund seiner Bedeutung als Brandopfer dem Genozid eine mystisch-religiöse Sinngebung, die es nicht gibt.
Der hebräische Begriff »Schoa« als großes Unheil oder Katastrophe erschiene also passender. Ist die Verwendung eines Fremdwortes allerdings nicht ebenfalls fragwürdig? Mit der Umgehung einer deutschen Bezeichnung sucht man Abstand zu einer Vergangenheit herzustellen, die nicht vergeht. Wäre der Terminus »Judenvernichtung« eher geeignet? Er trägt einem der spezifischen Merkmale der NS-Verfolgung Rechnung, nämlich dem nahezu industriellen Charakter dieses Genozids unter Verwendung von Zyklon B, einem Präparat zur Schädlingsbekämpfung. Doch: die Juden als »Schädlinge«? Sitzt man bei der Rede von der Judenvernichtung nunmehr der Täterperspektive auf?
Die Nazis haben Juden auf jedwede Weise gekennzeichnet, gedemütigt, deportiert und gemordet. In Millionen Fällen wurde ein jeweils einzelnes Menschenleben ausgelöscht. Meist gibt es nicht einmal ein Grab, das Angehörige besuchen könnten – falls denn überhaupt Angehörige verschont blieben. Mit den Mord-Methoden wurde »experimentiert«. Erschießungen wurden problematisiert, weil eine Kugel für jedes Opfer zu kostspielig sei. Die Verwendung von Gas hatte neben dem »ökonomischen« Aspekt noch den »Vorteil«, dass die unmittelbaren Täter ihre Opfer nicht anschauen mussten.
Memorizid Nach erlittenem Gastod sind die Juden gewissermaßen ein zweites Mal »vernichtet« worden: Das Verbrennen in Krematorien sollte von den Opfern außer ihrer Asche nichts hinterlassen, nicht die mindeste Gedächtnisspur – ein »Memorizid« also, eine Zerstörung von Erinnerung und somit ein weiteres Verbrechen an den Juden als »Gedächtnisvolk par excellence« (Jacques Le Goff). Damit stellt der an sechs Millionen Juden begangene Mord »nur« eine der Dimensionen der Naziverfolgung dar. – Angesichts der Monstrosität dieser Verbrechen versagt unsere Sprache.
So ergeht es nicht nur uns Nachgeborenen, Journalisten oder Wissenschaftlern, den Angehörigen der Zweiten oder Dritten Generation, die versuchen, Worte zu finden für das, »wohin die Sprache nicht reicht« (Hans Keilson). Der Problematik, die Demütigungen, die Erfahrungen von Deportation, von Inhaftierungen in Ghettos, in Arbeits- und Vernichtungslagern kaum in angemessene Worte fassen zu können, unterliegen auch die Überlebenden selbst.
Dass das Erinnern extremen Traumas unerträglich ist, dass Überlebende jedoch zur gleichen Zeit nicht vergessen können, wie sie zu Zeugen einer »unverlierbaren Zeit« (Jean Améry) wurden, dass es furchtbaren Schmerz hervorruft und zuweilen zum Zusammenbruch führt, die Elemente der aus Gründen der Abwehr notwendig fragmentierten und dissoziierten Verfolgungserinnerungen »zusammenzufügen«, haben in besonderer Weise auch die Menschen erfahren, die den Überlebenden ganz besonders nahestehen, nämlich ihre Familien, ihre Söhne und Töchter, ihre Enkelinnen und Enkel. Vermutlich ist es ein spezifisches Kennzeichen extremen Traumas, dass es den Überlebenden nicht gelingen kann, die Verfolgungserfahrungen in ihr Seelenleben zu integrieren. Für sie bleibt es ein beständig vorhandener Fremdkörper, den sie nicht integrieren und mit dem sie zugleich leben lernen mussten und müssen.
Brechung Weil das Erinnern der Schoa als ein soziales Geschehen verstanden werden muss, das in einer bestimmten gegenwärtigen Situation immer wieder eine Neukonstruktion erfährt, in welche die Nachkommen der Opfer szenisch eingebunden sind, werden auch die Zweite und Dritte Generation zu Trägern von erinnerten Erfahrungen der Übriggebliebenen (der Ersten Generation). Von Erfahrungen allerdings, die sie nicht selbst erlebt haben, wenngleich es ihnen aufgrund der Identifizierung mit den Eltern oder Großeltern so erscheinen mag, als seien sie selbst dabei gewesen.
Die Nachkommen wurden »in den Holocaust hineingeboren« (Yossi Hadar), aber die Erinnerungen der Überlebenden erfahren stets vielfache »Brechungen«. Sie werden nicht einfach weitergegeben, als handele es sich um einen Gegenstand. Die Trauma-Tradierung erfolgt in Gestalt von Beziehungserfahrungen, ist mithin von persönlichen Eigenschaften der Beteiligten wie auch von ödipalen Konfliktkonstellationen geprägt und stets in bestimmte kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen eingebettet. Das »szenische Erinnern der Schoa« stellt somit keine bloße Wiederholung von »Flashbacks« dar, auch wenn sich manche Erfahrungen in das Seelenleben der Überlebenden eingebrannt haben, die in bestimmten sozialen Situationen plötzlich aufbrechen.
Der Auschwitz-Überlebende Norbert Wollheim sagte 1946, die Überlebenden seien zwar gerettet worden, nicht aber befreit. Dass dies auch fast sieben Jahrzehnte später noch immer Geltung hat und dass auch die Kinder und Enkel der Opfer in dem Erleben ihrer Gegenwart in die Verfolgungsgeschichte ihrer Vorfahren eingebunden sind, ist sicherlich eine belastende Erkenntnis. Sie gehört jedoch zu einer »Erbschaft«, die kein Mensch ausschlagen kann.
Der Autor ist Psychoanalytiker und leitet am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/M. mit Friedrich Markert das Forschungsprojekt »Szenisches Erinnern der Shoah. Zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland«. In der kommenden Woche wird er bei der Berliner Tagung der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden »A never ending story. Erinnerung und Trauma in der 3. Generation« einen Einführungsvortrag halten.
bildungsabteilung@zentralratdjuden.de