Gleich auf der ersten Seite von Yasmina Rezas druckfrisch auf Deutsch erschienenem Roman Serge kommen Fans von ihren Theaterstücken und Romanen auf ihre Kosten: Witzig, beobachtungsgenau bis in die kleinsten Details und mit perfekt sitzenden, knappen Dialogen evoziert die Autorin Situationen und Menschen anschaulich und eindringlich. Es geht hier um einen Monsieur, der schon lange nicht mehr im Schwimmbad war. Die Moderne hat ihn, den Ich-Erzähler des Romans, überholt.
»Ihre Badehose ist aus Stoff.«
»Ja, klar.«
»Die muss aus Lycra sein.«
Schließlich leiht sich dieses Ich für zwei Euro eine grüne Badehose und registriert ebenso ernüchtert wie voller Diätvorsätze den blassen, weichen Bauchring, der über die Hose quillt.
BESCHNEIDUNG Der Mann hat Angst vor Keimen und um seinen Penis, der in dieser Badehose zu verschwinden hat. Er ist vermutlich beschnitten, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt, sondern nur indirekt angedeutet wird.
Vieles in dem Roman wird nicht ausdrücklich gesagt. Der Text bleibt auf der Oberfläche, doch wird diese aus der Tiefe des Erzählraums heraus beleuchtet, wirft Schatten, irrlichtert, fasziniert. Bisweilen aber geht die Leserin auch verloren zwischen den vielen zufälligen Gesprächen, den zahlreichen Figuren und Begebenheiten, den Alltagsfloskeln, den eingefahrenen Verhaltensmustern und eingefrorenen Gefühlen.
Die Autorin entwirft eine in Paris lebende assimilierte jüdische Familie. Im Zentrum stehen die drei mittlerweile gut 60-jährigen Geschwister Popper sowie deren Partnerinnen und Partner (aktuelle und verflossene) und Kinder (leibliche und aus Patchwork-Konstellationen).
perspektive Erzählt wird aus der Perspektive des mittleren Jean, der seinen älteren Bruder Serge zur zentralen, Titel gebenden Figur stilisiert. Serge ist beziehungsweise war der Lebemann und Frauenheld; er hat als Jugendlicher die großen Konflikte mit dem cholerischen, bisweilen gewalttätigen Vater geführt. Sich selbst beschreibt Jean eher als unauffällig und wenig risikobereit.
Er ist der Vermittler, der gerne Harmonie stiften möchte – bei dieser, wie wohl den meisten Geschwisterkonstellationen, ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht zufällig fühlt sich Jean dem autistisch und hilflos wirkenden Kind seiner Ex (und Gelegenheitsgeliebten) besonders nahe.
Das dritte der Popper-Geschwister ist Nana, eine einst verwöhnte und hübsche Nachzüglerin, die einen sozial unpassenden katholischen und spanischen Mann geheiratet hat, mit dem sie immerhin als Einzige ein beständiges Familienleben führt. Aber auch sie ist alt geworden, wie der Ich-Erzähler beim gemeinsamen Besuch der Gedenkstätte Auschwitz melancholisch feststellt und später erinnern wird.
SIEFELETTEN Das Bild der Schwester mit der roten, schräg umgehängten Handtasche, den zu engen Stiefeletten, dem bereits etwas gerundeten Nacken und den hoch gezogenen Schultern wird sich für ihn unauslöschlich mit der Erinnerung an die »Judenrampe«, mit dem Wort »Judenrampe« selbst verbinden.
Die gemeinsame Fahrt nach Auschwitz erfolgt nach dem Tod der Mutter, die nie über die Schoa und die ermordeten ungarischen Verwandten gesprochen hat und von ihren Kindern auch nie befragt wurde.
Angeregt, begleitet und geleitet wird die Fahrt von Serges Tochter Joséphine, die ihren widerwilligen Vater von einem der »unfassbaren« Tat- und Gedenkorte zum nächsten schleifen möchte und nicht akzeptieren kann, dass sich dieser lieber hinter der Windschutzscheibe des Autos verbarrikadiert. Nicht zuletzt im ausführlich geschilderten Besuch von Auschwitz erfolgt das für den Schreibstil der Autorin so typische Zusammenspiel von Tragik und Komik.
Das Buch ist auch ein Abschied von einer Generation, ja, einer ganzen Epoche.
Nun ist Yasmina Reza nicht die erste Autorin, die den Touristenrummel in Auschwitz mit bissigem Humor dekonstruiert. Zu erinnern ist etwa an Ruth Klügers Autobiografie weiter leben. Eine Jugend, die 1992 erschienen ist und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Bereits Klüger – und nicht nur sie – stand vor der Herausforderung, dass selbst für eine Überlebende Auschwitz kaum noch ein authentischer Ort sein kann, sondern als Chiffre für den Holocaust x-fach durch kulturelle Erinnerungs- und materielle Restaurationsschleifen gedreht wurde.
ABRAHAM BOMBA Wenn Yasmina Reza nun mit der Stimme ihres Protagonisten Jean an Claude Lanzmanns Film Schoa erinnert und hierfür eine der berühmtesten Szenen, nämlich die mit dem Friseur Abraham Bomba, nacherzählt, so wird diese Beschreibung erst dann von Neuem packend, wenn Jean sie auf eine ganz eigentümliche Weise mit der Erinnerung an den eigenen Vater verknüpft.
Bomba, einer der wenigen Überlebenden von Treblinka, und der Vater der Geschwister Popper hatten eine ähnliche Weise, laut und überbetont in Mikros und Kameras zu sprechen, weil sie der Technik ansonsten misstrauten. Hier ist sie wieder, die feine Beobachtungsgabe von Yasmina Reza, die ihre Sätze zu einem Erlebnis und einem Tor zu neuen Sichtweisen machen.
Das Buch ist auch ein Abschied von einer Generation, ja, einer ganzen Epoche, in der Überlebende noch erzählen konnten – aber vielleicht nicht erzählt haben. Dieser Abschied, diese Würdigung ist Reza in allen Ambivalenzen, in der Überlagerung von verschiedenen Stimmungen und Tonlagen beeindruckend und zeitgemäß gelungen.
Und die Geschwister Popper? Sie kehren aus Auschwitz ratloser, stummer und einander entfremdeter zurück, als sie es ohnehin schon waren. Erst der bei Serge diagnostizierte Lungenkrebs (auch dieses Wort wird nicht wirklich ausgesprochen) führt die Geschwister wieder zusammen – so nahe jedenfalls, wie es für sie nur möglich ist.
Yasmina Reza: »Serge«. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser, München 2022, 208 S., 22 €