Am 8. Mai 1985 stellte Richard von Weizsäcker in seiner historischen Rede fest, dass das Kriegsende in Europa keine »Stunde null« gewesen ist. Nun, genau 30 Jahre später, bemüht sich eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, die Aussage des damaligen deutschen Bundespräsidenten zu illustrieren.
»1945 – Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg« lautet der schwergewichtige Titel. Er signalisiert, dass der Gegenstand gewaltig ist. Aber er suggeriert auch, dass Deutschland ein Land unter anderen ist – das wie diese nach 1945 einen Prozess nationaler Selbstfindung zu durchlaufen hatte. Geht das überhaupt – das Land, das den Zweiten Weltkrieg entfesselte und sechs Millionen Juden umbrachte, retrospektiv einzureihen zwischen Nachbarn und Siegermächten?
Überhaupt, die komplexe Problemlage zwölf unterschiedlicher Länder Europas in einer keineswegs umfangreichen Ausstellung zu verdeutlichen, ist nicht unproblematisch, auch wenn es vordergründig zu funktionieren scheint. Doch Anspruch und guter Wille der Macher sind größer als ihr gestalterisches Talent. So triumphiert denn auch das Zauberwort Personalisierung – im Fernsehen werden mit dem biografischen Ansatz immerhin schon lange erfolgreich Geschichten und Geschichte erzählt.
Balkan 36 ausgewählte Personen – darunter viele jüdische – und ihre Biografien sollen den Besucher symbolisch an die Hand nehmen, in das Thema und die Besonderheiten ihres jeweiligen Heimatlandes einführen. Wobei nicht schlüssig wird, warum Länder des Balkans oder auch Italien nicht darunter sind.
Zuerst durchquert der Besucher einen dunklen Raum, in dem unter anderem Fotos von befreiten KZ-Insassen an die Wand projiziert werden. Dann steht man plötzlich im Hellen, auf weißem, jungfräulichem Boden. Kleine Holzsäulen sprießen empor wie Blumen im Frühling. Anstelle bunter Blüten sieht man hier schwarz-weiße Köpfe, Porträtfotos derjenigen, auf deren Biografien man im hinteren, erneut stark abgedunkelten Raum trifft.
Wie ein Fächer ist dieser Raum unterteilt nach Ländern mit länderspezifischen Überschriften: Polen – Trümmer und Trauma. Niederlande – Zwischen Euphorie und Ernüchterung. Belgien – Bewegte Nachkriegszeit mit schwierigem Erbe. Sowjetunion – Aufbruch und Stagnation in einem zerstörten Land. So weit, so austauschbar.
Bei genauerem Hinsehen sind Parallelen und Unterschiede erkennbar. Widerstand gegen die Nazis gab es in allen besetzten Ländern, häufig auch Kollaboration. Die Fotodokumente aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark und Norwegen zeigen, wie nach Kriegsende über prominente Kollaborateure zu Gericht gesessen wird und wie Frauen, die mit Besatzern liiert waren, von ihren Landsleuten mit unverhohlener Freude gedemütigt werden.
Widerstand Sachlich erscheint hingegen ein Schrank aus Kopenhagen, Teil der Zentralkartei »Landesverräter«. 40.000 Namen erfasste diese, angelegt von der dänischen Widerstandsbewegung bereits während des Krieges.
Über Ländergrenzen hinweg sind vor allem auch Geschichten von Vertreibung, Heimatlosigkeit und Entwurzelung dokumentiert: das Poesiealbum der in Darmstadt geborenen Jüdin Hanna Posener etwa, die 1939 mit ihren Eltern nach Kopenhagen und von dort aus 1943 nach Schweden floh. Im Mai 1945 entschied sie sich zurückzukehren – nach Dänemark.
Es gibt zudem das Foto eines kleinen französischen jüdischen Jungen, der als Einziger seiner Schule das Massaker von Oradour überlebte. Daneben sind Stifte und Tintenfässchen zu sehen – die einzig noch greifbare Erinnerung an seine Kindheit. Schwerelos im Raum schwebt das Puppengeschirr von Helly, Maria und Beate Österreicher, das sie und ihre Eltern nach Westerbork und Bergen-Belsen begleitet hatte. Für die drei Schwestern war es im Mai 1945 mutmaßlich der einzige ihnen gebliebene Gegenstand, der in Verbindung zu ihren von den Nazis ermordeten Eltern stand.
dokumente Abertausende frühere KZ-Insassen, Flüchtlinge und Displaced Persons irrten nach Kriegsende durch Europa. Rund 200.000 DPs lebten allein in Österreich. Ein Brief belegt, dass einige von ihnen den SC Hakoah Hallein gründeten, der von 1951 bis 1953 in der Salzburger Liga Fußball spielte. Etliche Objekte dokumentieren eindrucksvoll die Lage der jüdischen Überlebenden: das Exemplar eines Buches, Exodus, geschrieben von Yitzhak Perlov in einem bayerischen DP-Camp, erschienen im Verlag »Befrayung«.
Andere Fotos zeigen den Marsch über die Alpen – mehr als 5000 DPs gelangten durch den von den Amerikanern geduldeten illegalen Grenzübertritt nach Italien ans Meer, um von dort aus per Schiff weiter nach Palästina zu fahren. Der Rabbiner Solomon Schonfeld beispielsweise leitete von 1938 bis 1948 die Flüchtlingshilfsorganisation des britischen Oberrabbiners Hertz. 1946 reiste er nach Polen und suchte in der Umgebung der Vernichtungslager nach jüdischen Waisenkindern. Ein Foto zeigt 200 von ihnen bei ihrer Ankunft in Schottland – ein Zeugnis der Hoffnung.
Trümmerfeld Eines der Verzweiflung hingegen ist das große Gemälde des polnischen Malers Bronislaw Linke. El-mole-rachmim entstand 1946, als er mit seiner jüdischen Frau aus der Sowjetunion nach Warschau zurückkehrte. Aus dem Trümmerfeld der zerstörten Stadt erhebt sich, mit einem zerschossenen, zerrissenen Tallit bedeckt, eine einsame Hauswand – steinernes Monument der Vernichtung jüdischen Lebens.
Gerade angesichts eines solchen Bildes ist es schwer nachzuvollziehen, wie der gerettete, reich bestickte Toramantel aus der Synagoge des luxemburgischen Esch an der Alzette präsentiert wird: Während jede Uniform und jede Nationaltracht in dieser Ausstellung auf Augenhöhe angebracht ist, hat man die Tora auf den Boden gestellt. Der Besucher muss auf sie herabschauen.